Immer Dichter am Meer

Romantische Dichter und das Meer sind in unserem kulturellen Kollektivgedächtnis schon seit je eine unverbrüchliche Einheit

Am 20. Juli 1928 hatte der griechische Dichter Kostas Karyotakis genug. Die Strafversetzung vom lasterhaften Athen nach Preveza an die westgriechische Provinzküste tat ihre Wirkung. Er haderte mit dem tumben Landvolk und seinem frustrierenden Bürogehocke. Der elegische Paria und Opiumesser, dessen luzid-surreale Lyrik – durchaus verwandt mit jener von Rimbaud und Baudelaire – wenige Jahre später Mikis Theodorakis zu seiner ersten Oper „Die Metamorphosen des Dionysos“ inspirierte, beschloss an jenem Tag, sich in eine bessere Welt zu vertiefen. Gegen Mitternacht blickte er hinauf zum Diamantenglanz des ionischen Sternenhimmels, bekreuzigte sich – auch Atheisten haben ihre Marotten – und stürzte sich von den Felsen. Stundenlang und lautlos zog sich der Kampf mit den Wellen dahin, bis im Morgengrauen ein Bauer dem Poeten aus dem phosphoreszierenden Meer half. Karyotakis rappelte sich mehr verärgert als dankbar auf, ging zum Aufwärmen ins Kafenion, verlangte nach Papier und Tinte und aktualisierte den Abschiedsbrief an seine Geliebte. „Ich rate allen, die schwimmen können, nie zu versuchen, sich im Meer das Leben zu nehmen. Letzte Nacht habe ich zehn Stunden lang mit den Wellen gekämpft. Ich habe viel Wasser geschluckt, aber mein Mund gelangte, ich weiß nicht wie, immer wieder an die Oberfläche. Sicher werde ich, wenn mir die Gelegenheit dazu gegeben wird, einmal über die Eindrücke eines Ertrunkenen schreiben.“ Dieser Gelegenheit beraubte er sich wie auch der Nachwelt. Zunächst schlug am Nachmittag ein weiterer Suizid aufgrund einer mustergültig gesicherten Pistole fehl. Nach einem Fachgespräch mit einem Waffenkundigen ging der Dichter zurück zum Strand, legte sich unter einen Eukalyptusbaum, flüsterte „Ich erschieße die Zukunft“, zielte aufs Herz, traf und starb. Romantische Dichter und das Meer gehören in der kollektiv-archaischen Schatztruhe zusammen wie Mann und Frau oder der Starnberger See und König Ludwig II. Das „heilige Meer“ beschreibt Algernon Charles Swinburne als „ein verlorenes Paradies“, ein anderes und besseres Reich, wo es sich wahrhaft besser leben lässt. „Wenn ich einen Schwimmer sehe, dann male ich einen Ertrunkenen“, sagt Jacques Prévert in dem Roman „Hafen im Nebel“. Einer seiner Kollegen, der zu Lebzeiten hoch verehrte britische Lyriker und bekennende Nichtschwimmer Percy B. Shelley, wagte sich am 8. Juli 1822 am Golf von La Spezia trotz heftigen Regens und Sturmwarnung mit zwei Gefährten auf einem kleinen Segelboot in die tobende See hinaus. Der grandiose Stilist und Egomane, dessen erste Ehefrau sich ertränkt hatte, pflegte zeitlebens eine mortal-erotische Beziehung zum Meer, ruderte als Kind bereits in einem Waschtrog die Themse auf und ab, warf stundenlang Steinscheiben übers Rivierameer oder betrachtete fasziniert, wie seine aus Pfundscheinen gebastelten Papierschiffchen mit dem Dunst des Horizonts verschmolzen. Dazu zitierte er Homers „Ilias“ oder Goethes „Faust“ oder rief absurde Verse in den Wind. Mehrfach schon hatte ihn Freund Lord Byron aus den Fluten gerettet, nachdem er sich dort wie ein „mit Blei gefüllter Aal“ auf Grund sacken ließ. An jenem Abend trug die Jolle trotz haushoher Wellen und tosender Gischt immer noch volle Besegelung. Einen italienischen Kapitän, der sich in bester Rettungsabsicht näherte, schickte Shelley zum Teufel. Sein erklärtes Ziel war es, endlich „das große Rätsel zu lösen“. Zehn Meilen vom Land entfernt kenterte das Boot. Noch während er unterging, umklammerten seine Finger eine alte Ausgabe von Sophokles’ Dramen. Als sein Leichnam Tage später am Strand von Viareggio angeschwemmt wurde, hielt Byron den Anblick der „aschgrauen Masse formlosen Fleisches“ nicht mehr aus und schwamm urplötzlich ins immer noch unruhige Meer hinaus. Der berühmteste aller Dichterschwimmer wäre an diesem Tag ertrunken, hätte ihn wiederum nicht sein Kumpel Edward John Trelawny verfolgt und mit letzter Kraft an Land zurückgebracht. Das Meer war für Byron die Erlösung von Leere, Schwermut und Ekel. Der hedonistische Rebell aus adligem Haus, vom Schicksal in eine unpassende Zeit getaucht, gemartert von einer trostlosen Ehe und getrieben von maßloser Verschwendungssucht, trug Ovids romantischen Fluch in die Welt: „Ungünstige Winde nicht, nicht zornige Seen vermögen aufzuhalten den, der unter dem Befehl der Liebe steht.“


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mare No. 107

No. 107Dezember 2014 / Januar 2015

Von Wolf Reiser

Eurokrise, Bodentruppen, NSA, NSU, Experten, wohin man schaut, Talking Heads und Lobbytexter – wenn man wie Wolf Reiser, Jahrgang 1955, Autor in München-Schwabing, viele Jahre an den Küsten des Mittelmeers zu Hause war, dann kennt man diese unbändige Lust, hinein ins blaue Blau zu springen und anders als profane Schnorchler oder Harpunisten einfach nicht wieder aufzutauchen.

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