Immer der Fischnase nach

Unser Gehirn ist ein „Riechhirn“, Relikt unserer maritimen Herkunft. Ein Gespräch mit dem Geruchsforscher Hanns Hatt

Das Riechen entstand im Meer, im Wasser, im Urmeer, in der Dunkelheit. Bevor Lebewesen sehen und hören konnten, konnten sie riechen. Und trotz des Landgangs im Lauf der Evolution ist unser Gehirn im Grunde ein „Riechhirn“ geblieben. Was uns in die Nase steigt, führt uns an der Nase – es steuert unser Handeln, unsere Gefühle, unser Denken. Die Nase – das unterschätzte Sinnesorgan. Ein Gespräch mit Deutschlands führendem Geruchsforscher Prof. Dr. Dr. Dr. Hanns Hatt

mare: Es gibt Düfte, schreiben Sie in Ihrem „Kleinen Buch vom Riechen und Schmecken“, die versetzen uns augenblicklich in eine vergangene Welt. Wenn wir das Meer riechen, sehen wir plötzlich Bilder von sorglosen Sommerferien. Wir spüren das Gefühl von damals, endlich Ferien, keine Lehrer, für immer frei. Was passiert da in unserem Gehirn?

Hanns Hatt: Visuelle Sachen können wir irgendwann vergessen, so wie wir Gesichter vergessen oder Momente vergessen. Aber was wir einmal gerochen haben, sitzt in uns und kann auch 80 Jahre später wieder auftauchen. Wenn wir einen Duft zum ersten Mal riechen, speichern wir ihn mit den Emotionen ab, die wir in dem Moment empfinden, mit den Bildern, der Situation. Wenn wir den Duft wieder riechen, packen wir das Paket wieder aus. In Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ wird der Erzähler, als er Kekse riecht, von Erinnerungen übermannt. Das Gedächtnis mit einem Duft wachzurufen wird in der Wissenschaft „Proust-Effekt“ genannt.

Woher kommt die enge Verbindung von Gerüchen und Gefühlen? Was hat sich die Natur dabei gedacht?

Riechen zu können ist die älteste Anforderung an einen Organismus. Das Riechen entstand im Meer, im Wasser, im Urmeer, in der Dunkelheit. Bevor Lebewesen sehen und hören konnten, konnten sie in gewisser Weise „riechen“. Die ersten Tiere, die ersten Zellen brauchten weder Augen noch Ohren; sie mussten sich chemisch orientieren und chemische Signale austauschen, was gewissermaßen die Urform des Riechens darstellt. Die anderen Sinne, das Sehen und Hören, entwickelten sich erst später. In vielerlei Hinsicht ist unser Gehirn ein Riechhirn geblieben.

Was löst der Geruch des Meeres denn bei Ihnen persönlich aus?

Ich komme aus Bayern, da gibt es nicht viel Meer. Für mich hat Meeresluft immer mit Urlaub zu tun. Sonne, Strand, Schwimmen.

Ein Fischer wird da wahrscheinlich andere Assoziationen haben.

Genau. Der eine verknüpft mit dem Meeresgeruch etwas Positives, der andere vielleicht Angst, Panik oder Arbeit. Düfte rufen bei jedem Menschen andere Erinnerungswelten hervor.

Allerdings erwähnen Sie in Ihrem Buch auch nationale Geruchsvorlieben oder Duftaversionen. Amerikaner lieben Zimt, Fischgeruch empfinden sie als Gestank. Wieso?

Verdorbener Fisch ist das klassische Beispiel für eine Negativprägung. Wer einmal verdorbenen Fisch gegessen hat und sich zwei Tage übergeben musste, vergisst das nicht. Die Transportwege in Amerika sind lang, das Eis war früher knapp, die Kühlkette einzuhalten nicht immer einfach. Die Gegenden, die weit vom Meer entfernt liegen, werden früher häufiger von verdorbenem Fisch heimgesucht worden sein. So etwas kann sich ins kollektive Geruchsgedächtnis eingebrannt haben.

Auf der ganzen Welt beliebt dagegen ist Vanille.

Weil wir damit früh in Berührung kommen. Schon die Muttermilch duftet von Natur aus leicht nach Vanille. Babybrei wird damit verfeinert. Ab der 26. Schwangerschaftswoche können Kinder riechen, sie riechen im Fruchtwasser mit der Mutter mit. Und wenn die Mutter etwas gerne riecht – Schwangere essen oft Dinge, die Vanille enthalten –, prägen sich das die Embryonen ein. Überhaupt sind alle Geruchsvorlieben früher oder später erlernt, und die Riechschule beginnt schon im Mutterleib.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 127. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 127

April / Mai 2018

Ein Interview von Dimitri Ladischensky

Dimitri Ladischensky, mare-Redakteur, Jahrgang 1972, riecht etwas noch viel lieber als das Meer: den Waldboden nach einem Sommerregen.

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Vita Dimitri Ladischensky, mare-Redakteur, Jahrgang 1972, riecht etwas noch viel lieber als das Meer: den Waldboden nach einem Sommerregen.
Person Ein Interview von Dimitri Ladischensky
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