Im verwilderten Garten Eden

Tahiti behauptet sich, wie alle Mythen, tapfer gegen die Wahrheiten der Wirklichkeit. Ein Paradies ist ein Paradies ist ein Paradies

Kommen Sie bloss nicht nach Tahiti! Denn hier herrschen Krieg, Diebstahl und purer Despotismus. Hier werden Kinder getötet, Menschen gefressen, hat die Sklaverei Konjunktur – während die Elite des Landes sich in Ausschweifungen und Faulheit ergeht. Sie lesen richtig, es geht um Tahiti, genauer: um den „Mythos Tahiti“. Allerdings nicht um den, der seit den Weltumsegelungen von Cook und Bougainville die Insel in die leuchtenden Farben eines goldenen Zeitalters taucht.

Die Kreativabteilungen der Werbe- und Tourismusbranche können bis heute nicht die Leidenschaft und Hingabe übertreffen, mit denen Philibert Commerson, Schiffsarzt und Botaniker der Bougainville’schen Weltumsegelung, im November 1769 in der angesehenen Pariser Zeitung „Mercure de France“ Tahiti als vielleicht einziges Land der Welt feierte, „in dem Menschen ohne Laster, ohne Vorurteile, ohne Bedürfnisse, ohne Zwistigkeiten leben. Geboren unter dem schönsten Himmel, genährt von den Früchten einer Erde, die fruchtbar ist, ohne kultiviert zu werden, regiert eher von Familienvätern als von Königen, kennen sie keinen anderen Gott als die Liebe; jeder Tag ist ihr geweiht, die ganze Insel ist ihr Tempel, alle Frauen sind ihre Idole, alle Männer ihre Anbeter. Weder die Schande noch die Scham üben ihre Tyrannei aus“.

Solche Bilder sind stark, sie brennen sich über Generationen hinweg ein in die Seelenkarten zivilisationsmüder Europäer, die sich dieses Mythos auf ihrer Suche nach Reservaten einer unverdorbenen Natur bedienen. Aber es gibt auch Augenzeugen, die anderes zu berichten wissen. William Wales zum Beispiel, der von 1772 bis 1775 James Cook auf seiner zweiten Weltumsegelung als Astronom begleitete und der den üblichen Lobpreisungen auf die Schönheit und Verführungskraft der tahitianischen Frauen lakonisch entgegensetzte: „Die Tahitianerinnen sind klein, tragen Topffrisur wie bei uns auf dem Lande und haben maskuline Züge. Einige kamen an Bord – es waren die Huren, die keinerlei Unterschied zu den unsrigen an den Plymouth Docks aufwiesen.“

Wales war nicht der Einzige, der die Südsee ihres mythischen Glanzes beraubte, indem er einen negativen Mythos von Tahiti entwarf. James Wilson leitete von 1796 bis 1798 eine englische Missionsreise nach Tahiti, wo er mit Gleichgesinnten eine Mission gründen wollte. Auch er traf auf „schrecklichste Unzucht“, musste aber darüber hinaus auch „Kriege, Menschenopfer und abscheuliche Festivitäten“ konstatieren. Ohne Missionsarbeit, davon wollte er seine puritanischen Auftraggeber überzeugen, „droht diesem Eilande eine gänzliche Entvölkerung“.

Aber nicht nur die Beobachter vor Ort, gerade jene Schriftsteller, Philosophen und Maler, die niemals in die Südsee gereist waren, strickten kräftig an beiden Spielarten des Mythos Tahiti mit, auch am Negativmythos. Für den Philosophen Isaak Iselin glichen diese Eingeborenen schlichtweg „Kinderbanden“, für Immanuel Kant war ihre Lebenssituation auch nicht besser, als würde eine Horde Schafe eine Insel bewohnen. Und glaubt man Johann Georg Purmann, dann sind die Tahitianer zornige Menschen, ohne Mitleid im Krieg auch gegen Frauen und Kinder. Dieses Bild Tahitis und der Tahitianer ist weniger bekannt, es ist die andere, dunkle Seite des „Mythos Tahiti“.

Die Entdeckung Tahitis – 1767 durch Samuel Wallis – war deshalb so bedeutsam, weil sie mit den seit Mitte des 18. Jahrhunderts aufkommenden neuen Fragestellungen in Anthropologie, Geschichte und Politik einherging. Die Aufklärung hatte den Menschen bis dahin als reines Vernunftwesen aufgefasst, jetzt begann sie, ihn als ein nicht nur rationales, sondern empfindendes und empfindsames Sinnenwesen wahrzunehmen. Zudem fing man an, die Einflüsse der Naturgewalten auf den Menschen, seine Lebensweise und seinen Charakter zu untersuchen. So fiel die Entdeckung Tahitis zusammen mit der Entdeckung des „ganzen Menschen“ und der „Meereslust“, wie der Historiker Alain Corbin die zunehmende Faszination für die maritimen Gewalten kennzeichnete. In Europa, aber auch in exotischer Ferne, fand man Zusammenhänge zwischen den Eigenheiten der Küstenbewohner und Inselvölker und der „wasserreichen Atmosphäre“, der sie ausgesetzt sind. „Ihr ganzes Wesen hat Teil am Temperament des Meeres. Lebhaftigkeit und Tanzlust, innere Stürme der ungezügelten Leidenschaft charakterisieren das Küstenvolk in gleicher Weise, wie der Wechsel zwischen Sturm und Ruhe das Meer charakterisiert.“

Zum Symbol der „Befruchtungskraft des Meeres“ wird Venus, die Göttin der Liebe. Ihr irdisches Paradies ist die Insel Kythera, und seit Bougainville glaubte, Venus und Nymphen an den Gestaden Tahitis erblickt zu haben und die Insel deshalb Neu-Kythera nannte, gehen auch die göttlich-sinnlichen Attribute auf das Eiland und seine Bewohner über. In seinem Reisebericht schrieb Bougainville: „Die Göttin der Liebe ist hier zugleich die Göttin der Gastfreundschaft; sie hat hier keine Geheimnisse, und jeder Sinnenrausch ist ein Fest für das ganze Volk.“


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mare No. 42

No. 42Februar / März 2004

Ein Essay von Joachim Meißner

Joachim Meißner, geboren 1962, schrieb seine Dissertation über den „Mythos Südsee“. Der Philosoph lebt als freier Publizist in Friedberg. Schon früh stillte er seine kindliche Sehnsucht nach fernen Ländern auf ausgedehnten Reisen mit dem Finger im Atlas, die ihn regelmäßig auch in die Inselwelt des Südpazifiks führten. In mare No.10 schrieb Meißner über die Gemeinsamkeiten von Schweizern und Südseeinsulanern – als verklärte Verkörperung unschuldiger edler Wilder.

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Vita Joachim Meißner, geboren 1962, schrieb seine Dissertation über den „Mythos Südsee“. Der Philosoph lebt als freier Publizist in Friedberg. Schon früh stillte er seine kindliche Sehnsucht nach fernen Ländern auf ausgedehnten Reisen mit dem Finger im Atlas, die ihn regelmäßig auch in die Inselwelt des Südpazifiks führten. In mare No.10 schrieb Meißner über die Gemeinsamkeiten von Schweizern und Südseeinsulanern – als verklärte Verkörperung unschuldiger edler Wilder.
Person Ein Essay von Joachim Meißner
Vita Joachim Meißner, geboren 1962, schrieb seine Dissertation über den „Mythos Südsee“. Der Philosoph lebt als freier Publizist in Friedberg. Schon früh stillte er seine kindliche Sehnsucht nach fernen Ländern auf ausgedehnten Reisen mit dem Finger im Atlas, die ihn regelmäßig auch in die Inselwelt des Südpazifiks führten. In mare No.10 schrieb Meißner über die Gemeinsamkeiten von Schweizern und Südseeinsulanern – als verklärte Verkörperung unschuldiger edler Wilder.
Person Ein Essay von Joachim Meißner