Im Rhythmus des Lichtes

Allabendlich wandern gewaltige Lebensgemeinschaften an die Meeres­oberfläche und am Morgen wieder zurück in die Tiefe. Es ist die größte Migrationsbewegung der Welt

Die ersten, die auf den doppelten Boden des Ozeans aufmerksam wurden, waren Sonarspezialisten der amerikanischen Navy. Als sie während des Zweiten Weltkriegs mit ihrer brandneuen Technologie in der Tiefe des Meeres nach feindlichen U-Booten fahndeten, stießen sie in mehreren hundert Meter Tiefe auf einen Geist. Eine geheimnisvolle Schicht warf dort die Schallimpulse ihres Sonars fast ebenso stark zurück wie der weit darunter liegende Meeresboden.

Das Rätsel um das „Deep Scattering Layer“ wurde nur noch größer, als man feststellte, dass dieser „Phantomboden“ je nach Tageszeit unterschiedlich tief lag. Fand man ihn während des Tages in Tiefen bis zu 1000 Metern, so bewegte er sich mit Einbruch der Dunkelheit in Richtung Oberfläche, nur um am Morgen wieder in der Tiefe zu verschwinden.

Die Resonanzeigenschaften deuteten darauf hin, dass es sich um eine Schicht aus Myriaden kleiner Luftblasen handeln musste. Sollte dahinter eine neue Wunderwaffe des Gegners stecken, vielleicht ein Tarnsystem für U-Boote?

Auf eine natürliche Lösung des Enigmas kam kurz nach dem Krieg der britische Zoologe Norman B. Marshall. Die geheimnisvollen Blasen seien einfach nur die Schwimmblasen von Fischen, so Marshalls Theorie. Infrage kamen dafür vor allem Laternenfische, eine artenreiche und in allen Weltmeeren in riesigen Schwärmen lebende Familie kleiner Tiefseefische, die ihren Namen zahlreichen Leuchtorganen am ganzen Körper verdankt. Laternenfische leben tagsüber in der Zone des Mesopelagial, jener Mittelschicht des ozeanischen Lebens, in die tagsüber noch ein leichter Dämmerschein dringt.

Wie sich im Lauf der nächsten Jahrzehnte herausstellte, sind für die Sonarsignale ganze Lebensgemeinschaften von Tieren verantwortlich, die Nacht für Nacht aus dem Mesopelagial bis dicht unter die Wasseroberfläche aufsteigen und sich im Morgengrauen wieder in die Tiefe zurückziehen. Angeführt wird diese sogenannte Vertikalmigration vom Zooplankton. Dazu zählen Biologen alle frei schwimmenden Lebewesen, die sich im Gegensatz zu Fischen mehr oder minder passiv in den Meeresströmungen treiben lassen, von mikroskopisch kleinen Einzellern über winzige Ruderfußkrebschen und streichholzgroße Krillgarnelen bis hin zu meterlangen Kolonien von Staatsquallen. „Diese Definition des Sich-treiben-Lassens funktioniert aber nur in der Horizontalen. Wenn es um seine Position in der Vertikalen geht, hat das meiste Zooplankton volle Kontrolle“, sagt der Meeresbiologe Geraint Tarling vom British Antarctic Survey in Cambridge.

Das zeigt sich schon am Tempo der großen Vertikalmigration. Sie liegt bei rund sieben Zentimeter je Sekunde, dem Vielfachen der Körperlänge eines durchschnittlichen Planktonorganismus. Das entscheidende Signal für den Spurt an die Oberfläche und zurück liefert offenbar eine Kombination aus der inneren Uhr der Tiere und dem in die Tiefe vordringenden Restlicht. Dem Plankton dicht auf den Fersen sind planktonfressende Flossenträger der Dämmerzone, allen voran Marshalls Laternenfische.

Natürlich wussten Fischer schon lange, dass sich bestimmte Fischarten leichter des Nachts an der Oberfläche fangen lassen und dass sich dort dann auch mehr Kleingetier tummelt. Aber bis zur Entdeckung des „Deep Scattering Layer“ ahnte niemand, dass das, was da allnächtlich etliche hundert Meter auf Wanderschaft geht, die bekannten Migrationen von Gnus, Zugvögeln oder Buckelwalen bei Weitem in den Schatten stellt. Allein der antarktische Krill gilt als Tierspezies mit der größten Biomasse auf Erden, Schätzungen belaufen sich auf fast eine halbe Milliarde Tonnen. Ähnlich stark dürften auch die kleinen Laternenfische ins Gewicht fallen.


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mare No. 131

No. 131Dezember 2018 / Januar 2019

Von Georg Rüschemeyer und Wilhelmina Peragine

Die nächtliche Migration konnte Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, Wissenschaftsjournalist im englischen York, beim Tauchen in der Karibik erleben. War das Wasser tags kristallklar, wimmelte es nachts von marinem Kleinvieh.

Wilhelmina Peragine ist freie Illustratorin in Oakland, Kalifornien.

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Vita Die nächtliche Migration konnte Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, Wissenschaftsjournalist im englischen York, beim Tauchen in der Karibik erleben. War das Wasser tags kristallklar, wimmelte es nachts von marinem Kleinvieh.

Wilhelmina Peragine ist freie Illustratorin in Oakland, Kalifornien.
Person Von Georg Rüschemeyer und Wilhelmina Peragine
Vita Die nächtliche Migration konnte Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, Wissenschaftsjournalist im englischen York, beim Tauchen in der Karibik erleben. War das Wasser tags kristallklar, wimmelte es nachts von marinem Kleinvieh.

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