Im Revier der Nordseetiger

Zwischen Norwegen und England liegen die künstlichen Inseln der Ölindustrie – und ein paar tausend sehr ungemütliche Arbeitsplätze

Bei dem Orkan im Januar waren die Wellen mehr als 20 Meter hoch, was sich leicht schreibt, was sind schon 20 Meter. Die Krone einer Eiche, ein Haus mit sechs Stockwerken, nicht so beeindruckend. Nur stehen solche Wellen nicht still, sie rasen auf dich zu, ein Gebirge, das sich bewegt, eine Macht, eine Wucht, die man sich nicht vorstellen kann, bis man sie selbst erlebt hat. Frédéric Fournié aber zuckt mit den Schultern. „Seegang ist für uns kein Kriterium, die Arbeit geht weiter. Unsere Plattformen sind stabil gebaut, da passiert nichts.“

Fournié ist Ingenieur und der Offshore Installation Manager auf North Alwyn oder kurz OIM; die Bohrinsel hört auf sein Kommando. Der Franzose, 42 Jahre alt, ist lang und schlank, eine lässig-elegante Erscheinung, wie man sie eher in einer Werbeagentur erwarten würde, eigentlich nicht der Typ für markige Sprüche. Und doch beschwört er gleich zur Begrüßung den Mythos vom unerschrockenen Personal der Bohrinseln, das meerumschlungen den Elementen trotzt und stoisch einen Job verrichtet, bei dem jeder normale Mensch vor Angst erstarren würde. Die Chronisten des Ölrauschs tauften die Besatzungen der künstlichen Inseln ehrfürchtig North Sea Tigers, und man ahnt, was sie meinen: unbändige Kraft, große Sprünge. Andererseits verbringt die Raubkatze einen guten Teil ihres Lebens damit, faul auf der gestreiften Haut zu liegen und ihre Mahlzeiten zu verdauen, womit sie nur bedingt als Vorbild für Schwerarbeiter taugt, die im Grund unter dem Meer nach unserem wichtigsten Rohstoff schürfen.

Heute weht es nur mit Windstärke sechs, und die Aussichten für die nächsten Tage sind gut. Keine Chance also, extreme Verhältnisse zu beobachten und den Mythos an der Wirklichkeit zu messen. Die Wellen rollen ruhig unter der Insel durch, eine träge Dünung, die langsam an den meterdicken Stahlträgern hochsteigt und behäbig wieder sackt. Kaum zu glauben, dass die Gischt im Sturm gegen das unterste Deck in 30 Meter Höhe peitschen soll. Zu allem Überfluss scheint die Sonne, das Gewirr der Rohre und Streben leuchtet bunt und hat so gar nichts von einer Bewährungsprobe für Nordseetiger.

Allerdings muss man nicht lange suchen, bis man auf Indizien stößt, die ahnen lassen, wie es erst zugeht, wenn das Meer tobt. Wo sonst findet man beispielsweise Aufkleber mit der Empfehlung, bei Starkwind lieber einen Umweg zu nehmen? Extreme Caution in High Wind. Consider Alternative Routes! Und es muss gar nicht stürmen, um den Wert dieser Warnung zu erkennen. Schon jetzt widersetzt sich der Wind dem Gang nicht mit gleichmäßigem Druck; auf der Südseite der Insel ist es lau, man spürt die Sonne warm auf dem Overall, doch hinter der nächsten Ecke springt einen die kalte Bö wie aus dem Hinterhalt an. Gut, dass der Helm mit einem Riemen unter dem Kinn gesichert ist. „Für mich ist das Schlimmste immer der Radau, den der Wind veranstaltet“, klagt Steve Greig. „Bei zwölf Beaufort orgelt es in der Plattform mit einer Lautstärke, dass wir uns nur noch mit Zeichensprache verständigen können.“ Der Wind reibt sich an Gestänge und Trossen und produziert dabei grässliche Dissonanzen.

Greig hat einen Logenplatz in diesem schrillen Konzert, er fertigt 70 Meter über dem Meeresspiegel den Flugverkehr ab, er betankt die Hubschrauber, schleppt Gepäck, erledigt Papierkram. Das Helideck ist übrigens der einzige Ort auf North Alwyn, an dem es ausdrücklich verboten ist, einen Helm zu tragen. Allein die Rotoren der schweren Super Pumas produzieren so viel Druck, dass jede Kopfbedeckung sofort abhebt. Davon abgesehen spürt man Wetterextreme nirgendwo so heftig wie hier oben. Die Linienmaschinen aus Aberdeen landen bis Windstärke elf, da braust die Luft mit mehr als 100 Kilometern je Stunde über die Plattform. Die Passagiere, versichert Greig, werden beim Aussteigen angeseilt.

Sie sind nach dem zwei bis drei Stunden langen Ritt über gischtweißem Meer froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, wobei Besucher, die zum ersten Mal kommen, unter fest wahrscheinlich etwas anderes verstehen. Auf den ersten Blick sieht alles solide aus: North Alwyn besteht aus zwei Plattformen: Auf NAA wird gebohrt und Öl gefördert, auf NAB ist die Produktion untergebracht. Eine Brücke führt in 35 Meter Höhe über den Abgrund zwischen Nord- und Südinsel. Beide ruhen auf einem schwarzen Gerüst aus Stahl, das in 130 Meter Tiefe auf dem Grund der Nordsee verankert ist. 18500 Tonnen schwer sind allein die Beine, mit denen sich NAA gegen die Dünung stemmt. Der Eiffelturm, das zum Vergleich, ist knapp drei Mal so hoch und bringt es auf 10000 Tonnen.

Trotz dieser kolossalen Masse sind beide Plattformen doch nur im metaphorischen Sinn Inseln. Wenn man sich still an ein Geländer lehnt, spürt man ein sanftes Beben; die Konstruktion schwankt im Rhythmus der Wellen, selbst heute, bei den paar Meter Seegang. „Haben Sie das große Aquarium in unserem Aufenthaltsraum gesehen?“, fragt Ray Robertson, der Rettungssanitäter an Bord. „Beim letzten großen Sturm waren die Bewegungen der Plattform so heftig, dass uns das Wasser aus dem Bassin geschwappt ist.“ Und draußen wurde weiter gearbeitet.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 50. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 50

No. 50Juni / Juli 2005

Von Olaf Kanter und Joachim Ladefoged

Autor Olaf Kanter, geboren 1962, ist mare-Redakteur für Wirtschaft und Wissenschaft.

Fotograf Joachim Ladefoged, Jahrgang 1970, ist Däne und lebt in Ry, südlich von Århus.

Beide sind nie zuvor in ihrem Leben so viel Treppen gestiegen wie auf North Alwyn. Gewöhnungsbedürftig auch die Sicherheitsmontur: Wie bedient man eine Kamera mit dicken Handschuhen? Und wie versteht man seine Gesprächspartner bei diesem infernalischen Lärm mit einem Gehörschutz über den Ohren?

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Vita Autor Olaf Kanter, geboren 1962, ist mare-Redakteur für Wirtschaft und Wissenschaft.

Fotograf Joachim Ladefoged, Jahrgang 1970, ist Däne und lebt in Ry, südlich von Århus.

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Person Von Olaf Kanter und Joachim Ladefoged
Vita Autor Olaf Kanter, geboren 1962, ist mare-Redakteur für Wirtschaft und Wissenschaft.

Fotograf Joachim Ladefoged, Jahrgang 1970, ist Däne und lebt in Ry, südlich von Århus.

Beide sind nie zuvor in ihrem Leben so viel Treppen gestiegen wie auf North Alwyn. Gewöhnungsbedürftig auch die Sicherheitsmontur: Wie bedient man eine Kamera mit dicken Handschuhen? Und wie versteht man seine Gesprächspartner bei diesem infernalischen Lärm mit einem Gehörschutz über den Ohren?
Person Von Olaf Kanter und Joachim Ladefoged