Im Paradies der Pioniere

Im Seelager Artek, einer Säule sowjetischer Erziehung am Schwarzen Meer, singen Kinder wieder die alten Lieder

An die 4500 Kinder schwitzen auf den maroden Betonstufen eines Amphitheaters, das steil zur Küste hin abfällt. Wegen der Hitze hat die Lagerleitung ihnen die Paradeuniformen erlassen. Sie tragen hellblaue Shorts und gelbe, weiße, grüne oder blaue T-Shirts. Etwa 1000 Kinder je Farbe sitzen da, ordentlich in Gruppen von je 20 unterteilt. Vor jeder Gruppe stehen drei Agitatoren, die die Jubelrufe ihrer Schützlinge dirigieren. „Artek!“, schreien die Kinder unisono auf Kommando. „Artek wtschera, Artek segodjna, Artek na wsegda!“ – Artek gestern, Artek heute, Artek für immer!

Dann werden die Delegationen begrüßt, Hymnen abgespielt, Fahnen gehisst. Und noch immer geht kein Wind. Zum Auftakt des Schwarzmeerfestivals im „Internationalen Kinderzentrum Artek“ baumeln die Flaggen der Ukraine, Russlands, Moldawiens, Georgiens, Armeniens, der Türkei und Aserbaidschans schlapp an den tarnfarbenen Masten. „Eine Schande“, raunt eine der Agitatorinnen. „Artek!“, schreien die Kinder, als auf der Bühne der Reigen beginnt. Artek für immer.

Die da unten tanzen, hopsen und Volkslieder singen, werden ab morgen ihre Lagergenossen sein. Sie stammen, abgesehen von den Türken, sämtlich aus ehemaligen Unionsrepubliken und Bruderstaaten, von denen Anfang der neunziger Jahre viele Krieg gegeneinander geführt haben. Ihre Grenzen sind heute vermint, nicht selten herrscht auch für die Nachbarn Visumpflicht. Doch hier, im Süden der Krim, die seit 1954 zur Ukraine gehört und seit 1991 Autonome Republik ist, scheint die Sowjetunion noch nicht untergegangen. Hier spricht man Russisch, nach wie vor, hier sprechen sogar Armenier mit Aseris, Russen mit Georgiern, Moldawier mit Ukrainern. Tschetschenien, Nagorny Karabach sind weit weg. Es lebe die UdSSR, die Union der Sowjetvölker. Auch die diensteifrige Moderatorin, die alle Leiter sämtlicher Delegationen mit allen Funktionen vorstellt, dazu die vielen Flaggen, der künstliche Enthusiasmus und der grauenhafte Dilettantismus der Darbietungen – all das wirkt, als sei in dem 2,2 Hektar großen Küstengarten die Zeit einfach stehen geblieben. Von Artek aus betrachtet, ist die Gegenwart Zukunft.

„Friede, Freundschaft, Freiheit der Partei“ kündet ein eisernes Spruchband an der Bühne von einer Zeit, als Freiheit noch kein diffuser Begriff, sondern „Einsicht in die Notwendigkeit“ war. Selbst Lenin ist hier immer noch allgegenwärtig, als Kind, als Mann, als Übervater. Überall sichtbar steht er im Herzen des Lagers, etwas ramponiert zwar, aber er steht. Gefährlich, weil ebenfalls nicht mehr ganz neu, wächst hinter seinem Rücken eine 20 Meter hohe steinerne Flamme in den Himmel. Doch niemand würde den Gründer des größten Pionierlagers der Welt einfach vom Sockel stürzen, nicht einmal die Baupolizei.

Auf sein Geheiß nämlich haben 1925 am Fuß des Aju Dag das sowjetische Rote Kreuz und der Rote Halbmond ein Zeltlager für bürgerkriegsgeschädigte Kinder errichtet, dem in den letzten 77 Jahren Kurort um Kurort, ja sogar Tupolews Schwarzmeerdatscha einverleibt wurden – und das bis heute eine Welt für sich ist, mit eigenem Kraftwerk, eigener Wasserversorgung, eigenem Fuhrpark und eigenem Stolz. „Artek für immer!“, schreien die Kinder noch auf dem Weg zu den Bussen, die sie in ihre Schlafsäle bringen.

Die Kleinen schlafen sofort ein, die Älteren machen weiter Stimmung. „We will rock you“ singen sie und dann „We are the champions“. Sie sind Gewinner, denn sie sind in Artek, an dem Traum- und Sehnsuchtsort von Generationen sowjetischer Komsomolzen.

In Artek verbrachten nur die Besten, Klügsten, Aufrechtesten ihre Ferien. Nur wer gut lernte und von strammer Gesinnung war, kam aus den sibirischen Permafrostregionen an die russische Riviera, vom Nordmeer ans Schwarze Meer, aus Jakutien ins Land, wo die Zitronen blühen. Kein sowjetisches Kind, das nicht gewusst hätte, dass man von den Schlafsälen in Artek auf die See gucken konnte, das nicht die helle Sommeruniform und die roten Halstücher als Zeichen der Auserwähltheit gekannt hätte.

Heute tragen die Kinder in Artek keine Halstücher mehr. Sie sind Champions, keine kleinen Parteisoldaten. Der Unterschied ist gewaltig, auch wenn es nicht so aussieht: Mehr als 60 Prozent der Lagergäste, im Sommer sind es fast 90 Prozent, kommen nach Artek, weil sie es sich leisten können. 600 Dollar für drei Wochen Kost und Logis im Zwölf-Bett-Zimmer – das klingt nicht viel, ist aber in Ländern, wo das Mindesteinkommen bei 60 Dollar im Monat liegt und ein Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt, ein Vermögen. Die meisten Kinder sind zwischen neun und 16 Jahre alt; viele sind auf Wunsch der Eltern hier.

Katja zum Beispiel wegen des Vaters. Seine ganze Jugend habe er von Artek geträumt, sagt sie, es trotz guter Leistung und gefestigter Weltanschauung aber nur bis ins kleinere Pionierlager „Molodaja Gwardija“ in Odessa geschafft. Heute ist er Direktor einer privaten Firma im Westen der Ukraine, also der Kapitalist, gegen den zu kämpfen er als Pionier sich und dem Vaterland einst geschworen hatte. Der Artek-Mythos hat das System, das ihn hervorbrachte, überlebt. „Ich bin stolz, hier zu sein“, sagt Katja.


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mare No. 34

No. 34Oktober / November 2002

Von Stefanie Flamm und Claudine Doury

Stefanie Flamm, Jahrgang 1970, lebt als freie Journalistin in Berlin. Stolz erzählte man ihr im Ferienlager, dass seit seiner Entdeckung im Jahr 1969 einer von rund 40000 Planetoiden zwischen Mars und Jupiter mit dem Namen Artek durchs Weltall rast.

Claudine Doury, Jahrgang 1959, ist Mitglied der Agentur VU in Paris. Sie war ein wenig genervt von dem Übereifer des jugendlichen Wachpersonals von Artek: Auch beim 101. Betreten des Lagers bestand es auf Vorlage des Passierscheins.

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Vita Stefanie Flamm, Jahrgang 1970, lebt als freie Journalistin in Berlin. Stolz erzählte man ihr im Ferienlager, dass seit seiner Entdeckung im Jahr 1969 einer von rund 40000 Planetoiden zwischen Mars und Jupiter mit dem Namen Artek durchs Weltall rast.

Claudine Doury, Jahrgang 1959, ist Mitglied der Agentur VU in Paris. Sie war ein wenig genervt von dem Übereifer des jugendlichen Wachpersonals von Artek: Auch beim 101. Betreten des Lagers bestand es auf Vorlage des Passierscheins.
Person Von Stefanie Flamm und Claudine Doury
Vita Stefanie Flamm, Jahrgang 1970, lebt als freie Journalistin in Berlin. Stolz erzählte man ihr im Ferienlager, dass seit seiner Entdeckung im Jahr 1969 einer von rund 40000 Planetoiden zwischen Mars und Jupiter mit dem Namen Artek durchs Weltall rast.

Claudine Doury, Jahrgang 1959, ist Mitglied der Agentur VU in Paris. Sie war ein wenig genervt von dem Übereifer des jugendlichen Wachpersonals von Artek: Auch beim 101. Betreten des Lagers bestand es auf Vorlage des Passierscheins.
Person Von Stefanie Flamm und Claudine Doury