Im Dienst der Wahrheiten

Sie waren die ersten Kriegsreporter, und sie verfassten den ersten Menschenrechtsbericht der Geschichte. Ganz nebenbei schufen die spanischen Chronisten an Bord der Schiffe der Eroberer Latein­amerikas eine bis heute gängige Erzählform

Was wäre Wohl aus Gabriel García Márquez, dem kolumbianischen Literaturnobelpreisträger, geworden ohne die frühen Chronisten der Geschichte Lateinamerikas wie Francisco López de Gómara? Der spanische Dominikaner war im 16. Jahrhundert Beichtvater des berühmten Konquistadors Hernán Cortés; in dessen Auftrag sollte er den Daheimgebliebenen die Neue Welt schildern. Er und andere hätten „die Saat gelegt für alle unsere Romane“, sagte Márquez in seiner Nobelpreisrede von 1982. Er bezog sich damals auf den Aufschwung der lateinamerikanischen Literatur seit den 1960er Jahren, der viele Werke des Magischen Realismus befördert hat. Mittlerweile passt seine Aussage auch auf ein neues Genre im Spielfeld zwischen Literatur und Journalismus, das sich in Lateinamerika seit der Jahrtausendwende entwickelt. Es trägt denselben Namen wie die Beschreibungen edler Herrscher oder blutiger Schlachten aus der frühen Neuzeit: crónica, Chronik. Zugehörige Texte erscheinen in digitalen Reportagemagazinen oder Sonntagsbeilagen großer Tageszeitungen, verfasst von Autoren wie den Argentiniern Martín Caparrós, Cristian Alarcón oder Leila Guerriero, von Mexikanern wie Alma Guillermoprieto oder Juan Villoro, von Gabriela Wiener in Peru oder Pedro Lemebel in Chile. Sie zeichnen, wie auch schon die Reiseberichte der historischen Vorgänger, das Bild eines Kontinents.

Crónica bedeutet im Wortsinn das Erzählen einer Geschichte in der Reihenfolge ihrer Ereignisse. Für viele ist sie das einzig taugliche Werkzeug, um die Realität Lateinamerikas literarisch zu bearbeiten. Der mexikanische Autor Juan Villoro nennt sie „das Schnabeltier der Literatur“, das die erzählerische Kraft des Romans, die Fakten der Reportage, die Dramaturgie der Erzählung, die Argumente des Essays und die Subjektivität der Autobiografie in sich vereint. Geschaffen haben dieses Wunderwesen die ersten Chronisten.

„Die Literatur Lateinamerikas kam als Journalismus zur Welt“, sagte die mexikanische Publizistin Consuelo Sáizar jüngst beim zweiten Kongress der neuen Chronisten in der kolumbianischen Hafenstadt Cartagena de Indias, dort, wo García Márquez vor 86 Jahren zur Welt kam und wo heute seine Stiftung Fundación Nuevo Periodismo Iberoamericano (FNPI) wirkt. Renommierte Autoren vermitteln Studenten die Kunst der Chronik, die in Lateinamerika mittlerweile als identitätsstiftend gilt. Sie bricht mit den alten Regeln des europäischen Nachrichtenjournalismus, überwindet dessen Grenzen und erobert stilistisches Neuland, in dem Fakten und Fiktion nebeneinander existieren. Die Wunder des Alltags werden darin so detailliert beschrieben wie bei den Urvätern des Genres fremde Länder. Kritiker aus den eigenen Reihen bemängeln, in den Texten lebe zu viel Gewalt, zu viel Exotik, zu viel Misere, sie führten außerdem die eurozentrische Wahrnehmung der frühen Chronisten fort.

Die ersten Reporter im 16. Jahrhundert taten letztlich, was im Bereich des Möglichen war. Viele schrieben im Auftrag der Eroberer auf, was diese in der Ferne erfahren hatten, ohne die Kolonien selbst je betreten zu haben. Andere verfassten ihre Memoiren, nachdem sie um die halbe Welt gesegelt und als Konquistadoren zu Ehren gekommen waren. Manche notierten, was sie in fernen Missionsstationen erlebt hatten. Ihre Beschreibungen waren fantastisch, gewaltbefrachtet, detailliert. Sie klagten an oder verherrlichten, versuchten zu rechtfertigen und zu verewigen, was die Spanier zwischen Kalifornien und Feuerland gesehen und getan hatten. Sie verfassten, so García Márquez, „rigoros angelegte Reiseberichte, die doch wie Fantasieabenteuer wirken“.

Zwischen den Zeilen ist die Hilflosigkeit der Autoren zu spüren, angesichts der Größe und Zeitnähe der Ereignisse. Wie eine Eroberung chronologisch nacherzählen, die sich letztlich über 300 Jahre hinzog und an vielen Orten gleichzeitig stattfand, in Mesoamerika, in den Anden, am Río de la Plata, am Amazonas? Mindestens 45 000 Männer und Frauen wagten allein im 16. Jahrhundert von Sevilla aus die große Atlantiküberfahrt, so viele sind zumindest in den Passagierlisten jener Zeit notiert. Unter ihnen waren Soldaten, Priester, Geschäftsleute, Prostituierte. Sie wollten Gold suchen, Neuland erobern, den katholischen Glauben verbreiten oder sich aus der eigenen Misere im finsteren Spanien befreien. Die Crónicas de las Indias, „Chroniken aus Indien“ (gemeint ist Lateinamerika, der Begriff rührt von der geografischen Unkenntnis der frühen Seefahrer), zeugen in ihrer Vielfalt von der Komplexität des Vorhabens: Es sind Biografien, Briefe, Berichte, die heute im Kolonialarchiv in Sevilla (mare No. 36) ruhen. Nicht alle wurden gelesen, geschweige denn publiziert. Die, die Verbreitung fanden, vermitteln: Die Verfasser wollten die Wirklichkeit in Gänze einfangen.


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mare No. 98

No. 98Juni / Juli 2013

Von Brigitte Kramer

Brigitte Kramer, geboren 1967 in München, lebt seit vielen Jahren in Spanien. In Lateinamerika war sie noch nie. Beim Lesen der alten und neuen Chroniken spürte sie Sehnsucht und Wehmut.

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Vita Brigitte Kramer, geboren 1967 in München, lebt seit vielen Jahren in Spanien. In Lateinamerika war sie noch nie. Beim Lesen der alten und neuen Chroniken spürte sie Sehnsucht und Wehmut.
Person Von Brigitte Kramer
Vita Brigitte Kramer, geboren 1967 in München, lebt seit vielen Jahren in Spanien. In Lateinamerika war sie noch nie. Beim Lesen der alten und neuen Chroniken spürte sie Sehnsucht und Wehmut.
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