Im Bauch des großen Fisches

Erst seine Furcht erregende Tauchfahrt macht den biblischen Jona zum tüchtigen Propheten

Bestseller der Bilderbibeln, Klassiker im Kindergottesdienst – die Geschichte Jonas, des Propheten, der partout kein Prophet sein will. Verschlungen wird er vom großen Fisch, dem Bewohner der Tiefe, und nach drei Tagen und drei Nächten wieder ausgespuckt, nicht ins Meer, sondern an Land: „Und der Herr sprach zum Fische, und derselbe spie Jona aus ans Land.“ Zwischendurch, im Leib des Fisches, betet Jona zu Gott. Nach seinem Erlebnis wird er zu einem der erfolgreichsten Propheten, die das Alte Testament kennt.

Es ist eine bewegende, die Fantasie der Kinder und der Künstler gleichermaßen anregende Geschichte. Sie handelt von Verweigerung, von Flucht und Seenot, von Selbstaufgabe und einer wunderbaren Rettung. Das mächtige Meerestier, in dessen Bauch Jona drei Tage verbringt, ist kein Furcht einflößendes Ungeheuer, sondern das freundliche Transportmittel zurück, zurück aufs Trockene – und zu dem, was auf der Tagesordnung steht. So leicht entlässt Gott einen Propheten nicht aus seinen Diensten.

Man kann Jona in gewisser Weise verstehen, denn sein Auftrag ist schwer. Anders als die anderen Propheten des alten Israels soll er weder das eigene Volk zur Umkehr rufen noch auf sicherem Boden gegen andere Nationen wettern; er wird ins Ausland, und zwar ins feindliche, geschickt: „Mache dich auf, und gehe in die große Stadt Ninive, und predige wider sie; denn ihre Bosheit ist heraufgekommen vor mich“, so spricht der Herr zu ihm.

Dass die Einwohner der assyrischen Metropole Ninive (im Norden des heutigen Iraks gelegen) einem dahergelaufenen israelitischen Propheten kein Gehör schenken, vielmehr höchst verärgert über seine Einmischung sein würden, muss für Jona auf der Hand gelegen haben. In der Tat macht er sich auf, aber in die entgegengesetzte Richtung. Er will übers Mittelmeer nach Westen; sein Ziel ist das sagenumwobene Tarsis, ein Ort, an dem man (wie beim Propheten Jesaja zu lesen ist) den Herrn nicht kennt.

Wovor also flieht Jona? Vor einem aussichtslos scheinenden Auftrag und vor dem Angesicht Gottes. Auf dem Schiff verkriecht er sich in den entlegensten Raum, aufs unterste Deck, und sucht Vergessen im Schlaf. Vielleicht wird ihn so, auf dem weiten Meer, tief verborgen im Schiffsdunkel, unbewusst, sein Auftraggeber selbst vergessen.

Doch weit gefehlt. Der Herr entfesselt einen Sturm, das Schiff droht auseinander zu brechen, die Seeleute werfen Teile der Ladung über Bord und schreien: „Ein jeglicher zu seinem Gott!“ Man weckt Jona aus seinem tiefen Schlaf und fordert ihn auf, dass auch er zu seinem Gott um Rettung flehe – ein Wunsch, der ihm, dem Flüchtling, sehr ungelegen kommt. Aber wie lässt sich das Schlimmste, der Schiffbruch, verhüten? Die Mannschaft besinnt sich auf den alten Brauch, das Los zu werfen, um zu ermitteln, wer für das Unglück verantwortlich ist, und das Los fällt, ganz korrekt, auf Jona. Nach manchem Hin und Her bietet er selbst den Schiffsleuten an, ihn über Bord zu werfen. „Und sie nahmen Jona und warfen ihn ins Meer; da stund das Meer still von seinem Wüten.“

Es wäre verfehlt, in Jonas Selbstopfer nichts anderes als einen karitativen Akt zu sehen. Er verfolgt eigene Interessen, und die Rettung der Mannschaft und des Schiffes ist eine zwar erfreuliche, aber nicht die eigentlich beabsichtigte Folge seines Handelns.

Von Anfang der Geschichte an will Jona hinab. Noch an Land, geht er „hinab gen Japho“, in die Hafenstadt, das spätere Jaffa. Auf See steigt er hinab ins Innerste des Schiffes, legt sich dort nieder und fällt in tiefen Schlaf. Aber das alles reicht nicht aus, er will noch weiter hinab. Versinken bis auf den Meeresgrund, völliges Erlöschen des Bewusstseins, in äußerster Ferne vom himmlischen Auftraggeber sein, das ist Jonas Ziel. Ein Wunsch, der in Erfüllung zu gehen scheint, aber eben nur: scheint.

Denn der große Fisch, der in der Fantasie späterer Jahrhunderte zur Seeschlange und zum Drachen mutiert und von Luther erstmals mit „Walfisch“ übersetzt wird, verschluckt Jona und bringt ihn heil zurück aufs Festland. Die Rückreise geht ostwärts, aus jener Gegend, in der irgendwo Tarsis liegt, wo die Sonne ins Meer sinkt, dahin, wo sie aufgeht. Aus dem Reich des Todes und der Unterwelt (ein Wal, und sicher auch der große Fisch, taucht tief) zurück nach oben, in die Helle des Bewusstseins und ins Land der Lebenden, in deren Alltag mit seinen Geschäften, guten wie bösen.

Noch einmal erteilt der Herr Jona den Auftrag, und ohne zu zögern macht der Prophet sich auf nach Ninive, spricht dort einen einzigen Satz: „Es sind noch 40 Tage, so wird Ninive untergehen“, und veranlasst durch nichts als diesen einen Satz 120000 Assyrer, umzukehren zum Herrn. Ein fulminanter Erfolg; so leicht, so schwer war es für Jona.

Es war schwer für ihn, denn er musste ein anderer werden, um seine Aufgabe erfüllen zu können. Eine bestimmte Einsicht war nötig, um aus dem mutlosen, sich nur nach dem Tod sehnenden Flüchtling einen tatkräftigen Propheten zu machen. Worin besteht seine Einsicht, und was hat Jonas Wandlung bewirkt? Aus dem Leib des großen Fisches heraus richtet Jona ein Gebet an Gott. Und das Erstaunliche ist: Weder bittet er darum, verschont zu werden von schwierigen Prophetengängen, noch bittet er um Rettung aus seiner misslichen Lage. Vielmehr dankt er Gott für eine bereits erfolgte Rettung. Er stellt nämlich fest, dass der Herr ihn aus dem Totenreich geführt habe, dass er, mit anderen Worten, schon einmal tot war, nun aber wieder lebt: „Die Erde hatte mich verriegelt ewiglich; aber du hast mein Leben aus dem Verderben geführt, Herr, mein Gott.“

Vor dem Verschlucktwerden also war Jona, so sieht er es jetzt, auf gewisse Weise tot; nun aber, im Bauch des Fisches, lebt er. Der verzweifelte, flüchtige Jona, der nur immer tiefer hinab wollte, der das Vergessen und den Tod wünschte – er war bereits tot, lebendig begraben, wenn man so will. Aber er wird gerettet ins wirkliche Leben hinein, das heißt in der Logik der Geschichte: in das ihm bestimmte Leben als selbstsicherer und überaus erfolgreicher Prophet.

Und mit einem kleinen psychologischen Dreh ließe sich sagen: Jona wird gerettet vor seiner eigenen Mutlosigkeit und Todessehnsucht, vor genau dem, was ihn am Leben hinderte.

Eine schöne, vielleicht zu schöne Geschichte. Man muss verschlungen werden von der tiefsten Tiefe, um zu erkennen: Am wirklichen Tiefpunkt war mein Leben längst angelangt. Und mit dieser Einsicht geschieht, vielleicht, das Wunder: „Und der Herr sprach zum Fische, und derselbe spie Jona aus ans Land.“

mare No. 31

No. 31April / Mai 2002

Von Gregor Gumpert

Die Zitate aus dem biblischen Buch Der Prophet Jona folgen der Übersetzung Luthers in einer Ausgabe aus dem Jahr 1904.

Gregor Gumpert, Jahrgang 1962, lebt als Literaturwissenschaftler in Berlin.

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