„Ihr Faschisten habt keine Ahnung“

Chiles Diktator Pinochet ließ seine Gegner brutal foltern – auf speziellen Schiffen im Hafen von Valparaíso. Der Deutsche Werner Simon gehörte zu den Opfern. Sein Sohn Ulli erzählt im Interview davon und wie auch er nur knapp den Schergen entging

Am 11. September 1973 putschte das Militär unter Augusto Pinochet. Ihr Vater wurde kurz darauf verhaftet und verschwand für 39 Tage. Wussten Sie, wo er sich befand?
Ulli Simon: Nein, lange nicht. Es begann Wochen vor dem Putsch mit einem Streik der Fuhrunternehmer. Sie waren stark rechts und wollten das Land lahmlegen. Die wenigen Lkw-Fahrer, die sich nicht daran hielten, wurden von Rechtsextremen bedroht. An einem Wochenende lud mein Vater, der in einer Gasfabrik nahe Valparaíso arbeitete, einen Laster mit Propangasflaschen voll, um sie in den Armenvierteln der Stadt zu verkaufen. Es war zwar nicht sein Job, aber die Menschen brauchten Gas zum Kochen. Zusammen mit Freunden habe ich ihm geholfen. Wir saßen oben auf dem Laster. Mein Vater fühlte sich sicher und hatte nicht das Gefühl, etwas Unrechtes zu tun. Man kannte ihn überall. Er war Offizier der Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, Reserveoffizier der Marine, Chef einer Freimaurerloge und, obwohl Deutscher, Führer einer Gewerkschaft. Kurz nach dem Putsch wurde er dann das erste Mal vom Militär verhaftet. Er galt als Streikbrecher und musste sich in einem Zimmer nackt an eine Wand stellen. Sie wussten alles über ihn und auch über mich. Ein paar Nächte später dann wache ich mit Schmerzen in der Brust auf. In meinem Schlafzimmer stehen Typen in Tarnanzügen. Jemand hält mir ein Gewehr auf die Brust.

Hatten Sie sie nicht kommen hören?
Ich muss müde gewesen sein. Ich sollte mich anziehen und ins Wohnzimmer gehen, wo mein Vater und fünf meiner Brüder halbnackt standen. Nur meine Mutter und mein jüngster Bruder fehlten. Sie waren in der Frühe aufgebrochen, um Brot zu kaufen. Die Soldaten brüllten: Ihr seid sieben! Wo ist der älteste Bruder? Mir rutschte heraus: Meine Mutter ist mit ihm zum Brotgeschäft.

Dabei sind Sie der Älteste.
Genau, aber es war, als hätte mir jemand die Worte eingeflüstert. So haben sie nur meinen Vater mitgenommen. Wohin, wussten wir nicht. Nach ein paar Wochen standen Menschen vor unserer Tür, die man freigelassen hatte: „Euer Vater ist auf der ‚Lebu‘. Ihr müsst etwas machen, er stirbt!“

Kannten Sie das Schiff?
Klar, ich war ja mit meinem Vater als Seenotretter aktiv. Wir fuhren oft im Hafen von Valparaíso umher. Dabei sahen wir ständig die rostige „Lebu“. Sie gehörte einem rechten Unternehmer, der sie nach dem Putsch dem Militär als Gefängnis anbot. Viele, die auf die „Lebu“ verschleppt wurden, galten als Kommunisten, Sozialisten und Terroristen. Die meisten waren von Nachbarn verraten worden, andere hatten die Sperrstunde nicht beachtet.
War Ihr Vater nicht durch die deutsche Staatsbürgerschaft geschützt?
Ganz und gar nicht. Im Gegenteil. Die Folterer waren empört, dass ein Deutscher, der Hitler erlebt hat, sich in Chile den Linken anschließt! Ich glaube, deswegen wurde er zusätzlich malträtiert.

Er wurde härter gefoltert als andere Gefangene?
Das war eindeutig so, aber ich muss jetzt aufpassen, weil ich mit dieser Geschichte überempfindlich bin und heulen könnte. Ich will es so erzählen: Es gibt ein bekanntes Lokal in Valparaíso, das „Cinzano“. Noch vor dem Putsch, als ich Student war, trafen sich dort viele Linke. Wir tranken dort Wein und unterhielten uns nächtelang über Revolution. Zuletzt war ich dort vor gut einem Jahrzehnt mit einem meiner Brüder. Da kommt ein Mann hinein, setzt sich an einen der Nebentische und spricht mit sich selbst: „Ich kenne das, gefangen zu sein. Es war schlimm, aber ich bedauere nichts.“
„Wo warst du denn?“, fragte ich. Er sagte: „Ich war auf der ‚Lebu‘.“ Ich sagte: „Mein Vater war auch auf der ‚Lebu‘.“ Ich wollte ihm damit mitteilen: Genosse! Er fragte: „Wie heißt dein Vater?“ Ich sagte: „El Gringo Werner.“
Da fing er an zu weinen. Ohne mich anzugucken, erzählte er, wie Papa auf der „Lebu“ misshandelt worden war. Er erinnerte sich, wie die Folterer meinem Vater die Hose heruntergezogen haben, wie er nackt eine Strickleiter hinabklettern musste, wie sie mit den Gewehren auf ihn gezielt haben und Papa das Deutschlandlied singen sollte. Er hat erst gesungen, dann geschrien: „Ihr Faschisten, ihr habt keine Ahnung!“ Der Typ im „Cinzano“ hatte nichts vergessen. Und die Geschichte stimmte. In Valparaíso können solche Begegnungen ständig passieren. Die Stadt ist klein und die Vergangenheit präsent. Bis heute begrüßen mich dort meine alten Freunde so, als würde ich nicht seit Jahrzehnten im Exil leben, sondern wäre nur im Urlaub bei meinen Großeltern im Landesinnern gewesen.

Seit wann lebte Ihre Familie in Chile?
Mein Ururgroßvater väterlicherseits landete 1852 in Valparaíso. Man hatte ihm fünf Hektar Land versprochen, eine Kuh, Werkzeuge und Saatgut. Meine Familie mütterlicherseits sind die Lütjens aus Hamburg, darunter auch Günther Lütjens, der im Zweiten Weltkrieg Flottenchef und Befehlshaber bei der Kriegsmarine war. Mein Vater machte erst spät seinen Frieden mit dieser Linie der Familie. Papa wurde in Chile gezeugt, aber in Hamburg geboren. Meine Oma hatte sich nämlich in einen verheirateten jüdischen Violinisten aus Deutschland verliebt. Als der Mann erfuhr, dass Oma schwanger ist, türmte er in seine Heimat. Oma folgte ihm vergeblich an die Elbe. Immerhin erhielt mein Vater einen bekannten Taufpaten, den Bruder einer Freundin meiner Oma: Hans Albers. Als Jugendlicher legte ich jedes Weihnachten seine Platten auf [Ulli Simon singt laut, Anm. der Red.]: Auf der Reeperbahn nachts um halb eins … Heute werde ich traurig, wenn ich die Musik höre.

Sie sind selbst Musiker.
Ich habe immer Musik geliebt, auch als ich hier in Bremen Lehrer war. In meiner Schulzeit habe ich den Chor geleitet. Ich mochte Märsche. Heute schäme ich mich, wenn ich daran denke, wie gut mir einst Uniformen, Märsche und Krawatten gefielen. Später wurde mir klar, wie sehr der Militarismus seit je die chilenische Gesellschaft beherrschte und das heute wieder tut. Zuerst kommt die Kleidung, dann die Gedanken.

Sie wurden 1952 in Casablanca, Chile, geboren und waren 18 Jahre alt, als Salvador Allende zum Präsidenten gewählt wurde. Wie haben Sie die Zeit miterlebt?
Es war hoffnungsvoll. Ich bin in einem Indianergebiet aufgewachsen, wo ich gemerkt habe, was die Kolonialisierung für die Ureinwohner bedeutete: Krankheiten, Ausbeutung und Unterdrückung. Viele Menschen sehnten Allendes Reformen herbei. Zugleich machten rechtsextreme Gruppen mobil. Mittlerweile wissen wir, dass die USA in den 1950er- und 60er-Jahren überall in Südamerika mit rechten Gruppen paktierten, auch mit dem Militär und nicht zuletzt der Marine. Systematisch wurden Offiziere an die Escuela de las Américas in Panama eingeladen [heute Western Hemisphere Institute for Security Cooperation, die Red.], eine Rieseninstitution der USA. Letztlich wurden dort alle südamerikanischen Militärdiktatoren ausgebildet.

Was hielt Ihr Vater von Allende?
Grundsätzlich fand er ihn gut, auch wenn er ihn als Deutscher nicht wählen durfte. Er war geschädigt von der Hitlerdiktatur und begann sich erst Mitte der 60er-Jahre für Politik zu interessieren. Er hat sich in der MAPU engagiert, dem linken Flügel der christdemokratischen Partei. Als MAPU-Vertreter wurde er zum Gewerkschaftsführer berufen. Links und rechts standen sich noch nicht feindlich gegenüber. Alle trafen sich ständig auf denselben Veranstaltungen, Sozialisten, MAPU, Kommunisten, MIR, Izquierda Cristiana. Es gab einen großen Konsens. Ich bin Idealist, bin ich immer noch. Ich habe geglaubt, dass wir unter Salvador Allende ein besseres Land, eine gerechtere Welt schaffen können. Und ich war keineswegs der Einzige.

Zugleich wurde die Lage im Land brisanter.
Sie entglitt uns, vor allem weil die Amis präsenter wurden. Sie gehen immer nach dem gleichen Muster vor, damals in Chile, heute in Venezuela: Erst wird geballert, bis sich kaum mehr jemand aus dem Haus wagt. Es entstand eine Art Psychose. Die Menschen forderten mehr Sicherheit und mehr Waffen. Schließlich gab es kaum noch Lebensmittel, weil die Laster nicht kamen oder Waren versteckt wurden. Am Ende fehlte es an Mehl, Reis und Öl, was der Regierung angelastet wurde.

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 139. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 139

mare No. 139April / Mai 2020

Von Dirk Liesemer

Dirk Liesemer, Jahrgang 1977, freier Autor in München, hat schon viele Interviews geführt, aber kaum eines fand er so spannend, so bewegend wie das Gespräch mit Ulli Simon. Vorab hatte er dessen eindrückliches Buch Septembertage/Días de Septiembre gelesen, das 1998 mitsamt einer Musik-CD erschienen und antiquarisch erhältlich ist.

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Vita Dirk Liesemer, Jahrgang 1977, freier Autor in München, hat schon viele Interviews geführt, aber kaum eines fand er so spannend, so bewegend wie das Gespräch mit Ulli Simon. Vorab hatte er dessen eindrückliches Buch Septembertage/Días de Septiembre gelesen, das 1998 mitsamt einer Musik-CD erschienen und antiquarisch erhältlich ist.
Person Von Dirk Liesemer
Vita Dirk Liesemer, Jahrgang 1977, freier Autor in München, hat schon viele Interviews geführt, aber kaum eines fand er so spannend, so bewegend wie das Gespräch mit Ulli Simon. Vorab hatte er dessen eindrückliches Buch Septembertage/Días de Septiembre gelesen, das 1998 mitsamt einer Musik-CD erschienen und antiquarisch erhältlich ist.
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