Ich war in Vineta

Natürlich gibt es die Stadt! Sie ist vor Rügen versunken. Jedes Kind hat einen Pfennig in der Tasche, um sie zu erlösen

Lange vor Atlantis oder lange danach versank Vineta. Ob es dieses Atlantis gab, darüber bin ich mir nicht sicher; ob seine Mauern nun Fischheim sind und Krakenstube, ist nicht gewiss. Dass Vineta existierte – erst als merkantiles Eden, nun auf dem Grunde der Ostsee, hinweggerafft durch das von der Gier seiner Bewohner erboste Meer –, darüber habe ich nicht die geringsten Zweifel.

Ich bin auf Rügen aufgewachsen, irgendwo dort ist Vineta verschwunden. Manche wähnen die Stadt auch vor Usedom oder nahe des polnischen Wolin, neuerdings sogar bei Barth, im Bodden. Alles Unfug: Ich brauchte nur aus meinem Sassnitzer Kinderzimmerfenster zu gucken, zwischen Fensterkreuz und Horizont lag Vineta. Die Fähren gen Schweden fuhren darüber hinweg.

Es gab eine Vinetastraße in meiner Heimatstadt, eine Vineta-Kinderkrippe, eine „Villa Vineta“. Ein Hotel „Atlantis“ gab es nicht. Eine Aalsuppe nannte sich „Vineta“; das war nachvollziehbar. Die Menschen der submarinen Ortschaft galten als unermesslich reich, nur sie konnten sich einen Fisch leisten, der in meiner Kindheit gegen Devisen aufgewogen wurde. Eine Zeit lang gab es auch eine „Vineta-Combo“ mit einem Spitzbart als Sänger und einem Trommler mit hochgekrempelten Hosenbeinen. Die Combo war die Betriebskapelle des VEB Fischfang, mein Vater arbeitete dort als Schlosser. Sie spielte Shantys gegen zersetzendes Fernweh – „Was willst du denn in Rio, was willst du in Schanghai?“ –, aber auch Westhits, sogar am 1. Mai.

Seinerzeit achtete ich sehr darauf, dass in meinen Taschen immer ein Geldstück war. Denn selbstverständlich würde mir eines Tages die Stadt erscheinen, sie würde „sich erheben aus den Fluten“, und dann wollte ich nicht der Idiot aus der Sage sein, der all ihren Reichtum hätte haben können, der sie hätte erlösen können. Mit einer klitzekleinen Münze nur. Indes: „... der Junge suchte in allen Taschen seines alten Anzugs“, vergebens, „er wusste, dass er nicht einen Pfennig besaß“. Die Frauen samt ihren „mit Edelsteinen eingelegten Ketten“, die Männer mit „ihren pelzbesetzten Mänteln“, die ganze „alte, ehrwürdige Stadt“ verschwand „so lautlos, wie sie emporgestiegen“. Ein wenig schämte ich mich für meinen Glauben – Sagen hatten den Ruch des Religiösen, der Heimatkundeunterricht nahm sie nur am Rande durch.

Außer Störtebeker, bei dem lag die Sache anders. Der war historisch belegt und Kommunist. Er nahm den Reichen, gab den Armen; seine Meute der Likedeeler, der Gleichteiler, war die postulierte DDR zur See: Jeder erhielt gleich viel von der Beute, und der Rest wurde an die Volksbefreiungsbewegungen in Afrika gespendet.

Dennoch habe ich mich nie in seine Rahen geträumt, „Klaus, Land voraus“, habe nie mit ihm das Enterbeil gewetzt, die eitlen Pfeffersäcke nie geritzt. Nicht einmal seinen Schatz habe ich gesucht, obwohl der vergraben liegt in der Störtebekerschlucht vor meiner Heimatstadt.

Doch auf Vineta lauschte ich, in meinem Bett und wann immer wir am Strand saßen. Ich hörte die Glocken aus der Tiefe, die gurgelnden Stimmen seiner Bürgerschaft. Zweifelsohne atmeten sie dort unten, jedenfalls schien mir die Sache weniger rätselhaft als jener Vorgang aus dem Märchen: dass ein Mädchen in einen Brunnen springt, um im Himmel zu landen.

Ich bin nach Vineta getaucht, ein glänzender Kiesel war mir Pflasterstein, ein schimmerndes Metall „vergoldeter Ziegel ihrer Fassaden“. Jedes blinde Stückchen Seeglas ein Teil ihrer diamantenen Fenster, der Splitter Holz eine Planke der mächtigen Flotte Vinetas. Und war nicht das Strandgut – der Kehricht des Meeres aus Schrott und Plast –, war es nicht angespülter Hausrat jener Unterwelt?

Ob ich Vineta noch einmal finden werde? Ich zweifele daran. Jedem zeigt sich die Stadt nur ein einziges Mal. Ich sitze an den Stränden meiner Kindheit und sehe und höre nichts als Wasser, das auf Wasser schlägt. Ich hatte Vineta entdeckt, ich habe es nicht erlöst. Es bleibt verschwunden. Vielleicht sollte ich jetzt nach Atlantis suchen.

mare No. 32

No. 32Juni / Juli 2002

Von Maik Brandenburg

Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen.

Die Zitate stammen aus der Anthologie von Erich Rackwitz Geheimnis um Vineta, Der Kinderbuchverlag Berlin, 1974.

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Vita Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen.

Die Zitate stammen aus der Anthologie von Erich Rackwitz Geheimnis um Vineta, Der Kinderbuchverlag Berlin, 1974.
Person Von Maik Brandenburg
Vita Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen.

Die Zitate stammen aus der Anthologie von Erich Rackwitz Geheimnis um Vineta, Der Kinderbuchverlag Berlin, 1974.
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