Ich, Experimentkind

In den 1950ern machte Dänemarks Regierung ein „Experiment“: Sie holten 22 grönländische Kinder aus ihrer gewohnten Umgebung und erprobten ihre Umerziehung von indigener zu mitteleuropäi­scher Kultur. Jetzt entschuldigt sich der Staat dafür

Ihre Mutter stand da und hob die Hand, winkte und winkte, wurde immer kleiner, ein Fleck in der Ferne schließlich, bis sie am Ende ganz verschwand. Doch Helene, die in einem Boot weggerudert wurde, konnte nicht winken. Der Punkt, an dem sich Land und Meer berühren, war der Punkt, an dem sie sich voneinander entfernten, Mutter und Tochter. Das Ende aller Dinge und der Anfang aller Dinge.

Während ihre Mutter immer kleiner wurde, wurde das Schiff, zu dem Helene hinübergerudert wurde, immer größer. Ein paar Wochen zuvor hatte ihre Mutter gesagt, dass bald ein Schiff kommen und sie in ein Land namens Dänemark bringen würde, mit Bäumen und Bergen und grünen Wiesen. Wie das Paradies. Sie müsse nicht traurig sein. Aber am 25. Mai 1951, als Helene im Alter von sieben Jahren von ihrer Mutter getrennt wurde, war sie nicht traurig. Sie war vor Schmerz gelähmt, starr vor Staunen, dass es wirklich geschah.

Später, als ihre Mutter am Kai nicht mehr auszumachen war, als auch Grönland hinterm Horizont versank, stand Helene noch an der Reling des Schiffes und bewegte sich nicht fort. Damit sie nicht aus den Augen, aus dem Sinn, aus den Gedanken der Mutter verschwand, sobald sie abgelegt hatte. Damit sie ihr im Gedächtnis blieb wie ein heller Fleck im Sichtfeld nach einem Blick in die Sonne.

An einem Augustmorgen steht Helene Thiesen, 76 Jahre alt, an der Küste im Süden von Dänemark, auf der Insel Seeland, im versprochenen Paradies. Efeu rankt sich den Giebel empor, und die alten Mauern sind bemoost, das Gras steht höher als früher, und der Garten wuchert üppig, aber sonst sieht das Ferienheim des Kinderhilfswerks aus wie vor 70 Jahren, als sie dort ankamen, am Præstøfjord, nach der Fahrt über das Meer. 

Das Gewächshaus ist dasselbe, das gläserne Dach und die hölzerne Tür. Der Wald duftet nach Pinien, und die Mücken tanzen im Gegenlicht. Helene erinnert sich: Hier hat sie ihre erste Tomate gegessen, die ihr der Gärtner hinstreckte und die sie für eine rote Blume hielt. Und hier, von dieser alten Eiche, ist die große Christine heruntergefallen und hat sich den Arm gebrochen. Und hier haben sie die Schnecken eingesammelt, die sich dann über Nacht im Badezimmer ausgebreitet haben und die Fliesen hochgekrochen sind. Und hier ist der Weg, den die dänische Königin gefahren kam, mit ihrer schwarzen Limousine, und ihr wurde die Tür geöffnet, und die Kinder dachten: Kann sie das nicht allein? Die Welt, in der die 22 Kinder anlangten, ist neu und fremd, häufig zum Wundern, ein bisschen zum Fürchten. Nur wenige Grönländer hatten Dänemark zuvor gesehen.

Die Kinder wussten nicht, warum sich so viele freundliche dänische Damen um sie kümmerten und Ärzte sie beim Spielen beobachteten. Sie hatten keine Ahnung, dass sie hier im Ferienlager, in ihrem ersten halben Jahr in Dänemark unter medizinischer Aufsicht standen, um zu prüfen, ob sie den Wechsel in die neue Umgebung verkrafteten. 
Nachts hörte Helene Schüsse – Jäger auf der Pirsch, die durch die Wälder streiften. „Hole mich, Mutter, komm und hole mich“, rief sie unter der Bettdecke.

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mare No. 145

mare No. 145April / Mai 2021

Von Dimitri Ladischensky und Jan Grarup

Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur, begab sich auf Spurensuche und besuchte mit Helene Thiesen ihr altes Ferienheim am Præstøfjord, wo die Experimentkinder einst ankamen.

Jan Grarup, Jahrgang 1968, dänischer Fotograf, verfolgte aufmerksam die Aufarbeitung des „Experiments“ durch die Historikerkommission. Nach einigen Grönlandreisen interessiert er sich besonders für die Belange der Inuit.

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Vita Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur, begab sich auf Spurensuche und besuchte mit Helene Thiesen ihr altes Ferienheim am Præstøfjord, wo die Experimentkinder einst ankamen.

Jan Grarup, Jahrgang 1968, dänischer Fotograf, verfolgte aufmerksam die Aufarbeitung des „Experiments“ durch die Historikerkommission. Nach einigen Grönlandreisen interessiert er sich besonders für die Belange der Inuit.
Person Von Dimitri Ladischensky und Jan Grarup
Vita Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur, begab sich auf Spurensuche und besuchte mit Helene Thiesen ihr altes Ferienheim am Præstøfjord, wo die Experimentkinder einst ankamen.

Jan Grarup, Jahrgang 1968, dänischer Fotograf, verfolgte aufmerksam die Aufarbeitung des „Experiments“ durch die Historikerkommission. Nach einigen Grönlandreisen interessiert er sich besonders für die Belange der Inuit.
Person Von Dimitri Ladischensky und Jan Grarup