Hot Town, Summer in the City

Ihren Platz an der Sonne finden die New Yorker am Tar Beach. Auf den Dächern der Wohnblocks

Kati Nawrocki baumelt mit den Beinen. Zu ihren Füßen rauscht der Feierabendverkehr, für sie klingt es wie die Brandung des Meeres. Vor dem rötlichen Himmel treten die Hochhäuser von Manhattan als Scherenschnitt hervor. Die junge Frau sitzt auf dem Dach ihres Hauses in Brooklyn, es ist ihr Lieblingsplatz. Eine Feuerwehrsirene heult in der Ferne, ein vorbeifahrendes Auto schickt Musikfetzen herauf, eine Alarmanlage schrillt los. Die Abendbrise weht ihr glattes schwarzes Haar vors Gesicht. Auf den Stahltrossen der Brooklyn Bridge beginnt die Lichtergirlande zu glimmen; je grauer die Nacht, desto stärker scheint sie zu strahlen. Der Dunst des Tages weicht, an einem klaren Abend lassen sich alle beleuchteten Fenster des Financial District zählen.

Kati Nawrocki hat sich zurückgelehnt, stützt sich auf die Arme und blinzelt; mit halb geschlossenen Augen leuchten die Farben des Empire State Building intensiver. „Damned“, sagt sie, und nimmt einen langen Schluck Bier. „New York ist anstrengend. Aber die Abende auf dem Dach entschädigen für alles.“

Die einzigartige Atmosphäre über den Dächern der Stadt spüren besonders die, die nicht in New York City geboren, sondern zugezogen sind, sagt Kati Nawrocki, zugereiste New Yorkerin mit japanischen, deutschen und polnischen Vorfahren. „Wer hierher kommt, ist auf der Suche nach Symbolen. Und wenn nachts die Skyline in tausend Farben wie eine Postkarte vor dir liegt, dann erfüllen sich Fantasien und Träume. Dann jubelt alles in dir. Du bist zur richtigen Zeit am richtigen Ort.“

Kati Nawrocki schwärmt von ihrem Mietshaus in Brooklyn, in das die Grafikerin als Studentin mit einer Freundin einzog. An sonnigen Nachmittagen gingen sie mit ihren Büchern aufs Dach, doch ihre Sommerfrische war keine bepflanzte Oase und auch keine Terrakottaterrasse, sondern ein mit Teerpappe ausgelegtes Flachdach, der Tar Beach. Wenn es zu heiß wurde, legten sie sich gegenseitig Eiswürfel auf die Stirn. Zum Strand fährt man zwar nur eine Stunde mit der U-Bahn, aber dort hingen unangenehme Typen herum, „privater war es auf unserem Tar Beach“. Für New Yorker verhält es sich mit dem Strand von Coney Island wie mit dem Metropolitan Museum: Gut, dass es das gibt, aber warum sollte ich da hingehen? Auf dem Dach tauschst du das Branden der Wellen gegen das tief unten auflaufende Brausen des Verkehrs, das Licht der Sterne gegen die Lampen der Brooklyn Bridge, den Atlantischen Ozean an deinen Zehen gegen das Häusermeer zu deinen Füßen.

„Running up the stairs, gonna meet you on the rooftop“, sangen die Lovin’ Spoonful in ihrem Klassiker „Summer in the City“. In der amerikanischen Poplyrik ist der geteerte Dachgarten allgegenwärtig. Spoonful-Sänger John Sebastian nannte ein Soloalbum „Tar Beach“. Im Titelsong schwärmt er „I can feel the heat, / we’ll burn like butter on the hot concrete, / Desperation on the city street, / Let’s drag our blanket up to Tar Beach.“ Auch bei der Songwriterin Carole King klingt es an, die Stunden auf dem Dach sind kleine Fluchten aus der großen Stadt: „On the roof, it’s peaceful as can be, / And there the world below, don’t bother me.“

Tar Beach ist ein New Yorker Phänomen. In den vergangenen hundert Jahren gehörten die Dächer Reichen und Armen, Schwarzen und Weißen, Alten und Jungen. Wenn in den stickigen Häuserschluchten der Stadt kein Lüftchen weht, dürstet ihre Bewohner nach Kühlung, aber auch nach Licht und Luft. Dies sei, so die Historikerin Kathleen Hulser, symptomatisch für das Leben in modernen Städten. Mehr als für alle anderen amerikanischen Orte trifft dies auf New York zu, die vertikale Stadt. Wegen der teuren Mieten wird jeder Quadratmeter genutzt, da bleibt selten Platz für Balkone. Wenn Städte an den Wolken kratzen, ziehen auch ihre Bewohner dem Himmel entgegen. So wurde der Tar Beach für New York so spezifisch wie der Englische Garten für München.

Hulser versammelte in ihrer Ausstellung „Up on the Roof. The Culture of New York City Rooftops“ Gemälde und Drucke, einen riesigen hölzernen Wassertank der Firma Rosenwach, der mit seinen Spinnenbeinen unverwechselbar auf der Dachlandschaft New Yorks herumstakt, Brieftaubenkäfige und Fotos von ungesicherten Dächern im Village sowie die mit Pool und Palmen bestückten Penthouse-Gärten an der Upper East Side. Das bekannteste Ausstellungsstück war der Geschichtsquilt mit den Titel „Tar Beach“ der afroamerikanischen Künstlerin Faith Ringgold.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 33. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 33

No. 33August / September 2002

Von Barbara Schaefer

Barbara Schaefer, 41, lebt als freie Autorin in Berlin und schreibt unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Geo Saison, Merian und Brigitte. Ganz neu entdeckte sie New York bei ihren Besuchen auf den Dächern der Stadt.

Mehr Informationen
Vita Barbara Schaefer, 41, lebt als freie Autorin in Berlin und schreibt unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Geo Saison, Merian und Brigitte. Ganz neu entdeckte sie New York bei ihren Besuchen auf den Dächern der Stadt.
Person Von Barbara Schaefer
Vita Barbara Schaefer, 41, lebt als freie Autorin in Berlin und schreibt unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Geo Saison, Merian und Brigitte. Ganz neu entdeckte sie New York bei ihren Besuchen auf den Dächern der Stadt.
Person Von Barbara Schaefer