Horizont

Seit Anbeginn beschäftigen wir Menschen uns mit der mystischen Grenze zwischen Himmel und Erde. Der sich verändernde Blick auf sie beschreibt vor allem unsere geistige Entwicklung

Mit dem Horizont hat es eine eigene Bewandtnis. Rein rechnerisch, als perspektivische Fluchtlinie, hat es ihn schon immer gegeben. Auf Bildern erscheint er aber erst im Ausgang des Mittelalters. Hat man ihn nicht gesehen, oder hat man ihn nur nicht gemalt? Die mittelalterlichen Sakralgemäl­de gehorchen eigenen Regeln, sie ordnen Figuren gemäß der ihnen zukommenden Bedeutung hierarchisch übereinander, in aufsteigender Linie von den Gläubigen über die Heiligen hin zu Gott. Oder sie lenken als „Wanderlandschaften“ den Blick von einer Szene zur anderen, ohne jedoch zwischen ihnen einen einheitlichen Bildraum entstehen zu lassen. Für Ferne im räumlichen Sinn hat diese Kunst keine darstellerische Verwendung. 

Wer nach der Vorgeschichte des Horizonts fragt, bevor daraus ein Bildmotiv wurde, gerät auf eine doppelte Spur. Die eine führt in die Kosmologie. Das Rund des Blicks von erhöhter Warte übersetzt sich hier in eine Vorstellung vom Rand der Welt. Bis ins hohe Mittelalter hinein und im Volksglauben noch lange darüber hinaus ist die mythische Auffassung wirksam, derzufolge der Himmel als ein Schleier, Zelt, Vorhang oder als ein Gebäude aus Kristall ringsum auf der damals noch als Scheibe gedachten Erde aufruht. Der von Himmelswölbung und Erdscheibe gebildete Raum war nicht hermetisch nach außen verschlossen. Es gab Durchlässe sowohl durch die Erde hindurch als auch am Himmel, an dem die Sterne manchmal als Lichtöffnungen, die Milchstraße als Naht oder Gürtel gedeutet wurden. Bei vielen Völkern war zudem der Glaube verbreitet, dass sich der Himmelsrand periodisch hebt und senkt und dabei am Erdrand einen Spalt zur anderen Welt entstehen lässt. Man erklärte aus dieser Bewegung die Herkunft der Winde und lokalisierte das Land, in dem die Zugvögel überwintern, hinter dem Himmelssaum. Es gibt Volkssagen, in denen ein Held durch List nach außen gelangt und die obere Seite der Himmelswölbung erklettert, sich also auf eine Reise hinaus aus der irdischen Sphäre begibt. 

Der Rand der Erdfläche nahm in der Fantasie der alten Völker und Stammeskulturen einen hohen Stellenwert ein. „Dort sind von der dunklen Erde und dem nebligen Tartaros und dem immerwogenden Meer und dem sternreichen Himmel nebeneinander von allem die Ursprünge und Grenzen“, dichtete Hesiod. Am Weltrand kommen Himmel und Erde in der Ungeschiedenheit ihres Ursprungs zusammen, von dort klaffte der Abstand zwischen beiden auf, aus dem nach ihrer kosmischen Trennung die von den Menschen bewohnte Welt besteht. Wer in ­dieses Gebiet gelangte, machte sich den ersten Menschen ähnlich, von denen die Sage ging, dass sie auch in ihrem leiblichen Dasein bis zum Himmel reichten, weil das Reich der Gottheiten noch nicht vom gewöhnlichen Menschenleben getrennt war. Man musste mit besonderen Kräften begabt sein oder sich zuvor magischen Schutzmaßnahmen unterziehen, um sich dem Wagnis einer Weltrandreise auszusetzen. 

Auch das christliche Mittelalter hat vom Weltrand erzählt. Hier sind es nicht Helden, sondern Heilige, die sich auf den Weg machen, und auch ihnen tut sich eine den gewöhnlichen Sterblichen verschlossene Anderwelt auf. Fern im Osten oder im Westen liegt als Ziel ihrer Reise das Paradies, teils mit Zügen eines dem Irdischen entrückten Jenseits ausgestattet, teils aber auch geografisch ver­ortet und in dieser Lokalisation durch Erzählungen beglaubigt. So ist der heilige Brendan einer verbreiteten Legende zufolge von Irland aus westlich zu paradiesischen Inseln gelangt, was ihm einen Eintrag auf dem von Martin Behaim verfertigten ersten Globus verschaffte und noch Amerigo Vespucci zu seiner Entdeckungsfahrt inspiriert haben soll. 

Das ist die kosmologische Vorgeschichte, die im Bildmotiv des Horizonts nachlebt. Die andere
führt noch stärker in den Bereich der Theo­logie. Seit der Antike sind die Heili­gen­szenen christlicher Bildkunst von einem Goldgrund umgeben, in dem das Empyreum, das Licht- und Feuerreich der Seligen, widerscheint. Im Mittelalter weicht der Goldgrund in der westeuro­päischen Kunst zurück. Was von ihm bleibt, ist der dünner werdende Heiligenschein um die Häupter sakraler Figuren. In dem Maß, in dem der Goldgrund schwindet, breitet sich in den Gemälden eine immer weitläufigere Landschaft aus. 

An die Stelle göttlicher Trans­zendenz rückt eine innerweltliche räumliche Ferne, die indessen noch lange eine Erinnerung an ihre überweltliche Herkunft in sich bewahrt. Denn das Licht, das in den frühneuzeitlichen Weltlandschaften von der Ferne her leuchtet, ist kein natürliches, sondern ein numinoses, gewissermaßen noch aus dem zurückweichenden Goldgrund hervorscheinendes Licht; die Gemälde heben ihre Betrachter weit über alle Erdenschwere empor und lenken ihren Blick in eine unwirkliche, entgrenzende Wunderwelt. Ein Künstler, der sich auf die Fantastik bläulich illuminierter Ferngründe in besonderer Weise verstand, war – neben und gefolgt von anderen, zumal flämischen Malern – der Niederländer Joachim Patinir. Bei ihm wird die Versenkung in den Tiefenraum selbst – und nicht nur in die vorgelagerten biblischen Szenen – zu einer religiö­sen Erfahrung. 

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mare No. 161

mare No. 161Dezember 2023 / Januar 2024

Von Albrecht Koschorke

Albrecht Koschorke, Jahrgang 1958, ist Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz und Extraordinary Professor an der University of Pretoria. In seinen Forschungen interessiert er sich vor allem fürs Erzählen – innerhalb und außerhalb der Literatur.

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Vita Albrecht Koschorke, Jahrgang 1958, ist Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz und Extraordinary Professor an der University of Pretoria. In seinen Forschungen interessiert er sich vor allem fürs Erzählen – innerhalb und außerhalb der Literatur.
Person Von Albrecht Koschorke
Vita Albrecht Koschorke, Jahrgang 1958, ist Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz und Extraordinary Professor an der University of Pretoria. In seinen Forschungen interessiert er sich vor allem fürs Erzählen – innerhalb und außerhalb der Literatur.
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