„Hohle Räume, Canäle, krumme Wege“

Die merkwürdigste Theorie über das Entstehen von Ebbe und Flut wird 250 Jahre alt

Vor 250 Jahren, 1749, erschien in Halle ein Buch, das nach Ansicht seines Autoren Caspar Binninger mit einer sensationellen Erklärung aufwartete: die „Entdeckung der wahren Ursache von Ebbe und Fluth auf dem Meere“, so der Titel einer späteren deutschen Ausgabe. Im Vorwort des knapp 350 Seiten starken Oktavbändchens versprach Binninger die Klärung des bis dahin nicht schlüssig gelösten Problems, wie die Gezeiten entstehen. Er entwickelte eine skurrile Theorie, die heute wie eine verzweifelte Auflehnung gegen die wissenschaftliche Welterkenntnis und für die Sinnlichkeit der Natur wirkt.

Der Pulsschlag des Meeres, das rhythmische Steigen und Fallen seines Spiegels hat den Menschen stets verwundert und zu Erklärungen herausgefordert. Antike Autoren erkannten einen Zusammenhang der Schwankungen mit den Mondphasen. Doch eine Erklärung musste über Jahrhunderte ausbleiben, zu groß waren die Lücken im Wissen um astronomische Zusammenhänge und deren Wirkung auf die Erde. Der Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Naturphänomen blieb der Renaissance und den ihr folgenden Jahrhunderten vorbehalten.

Zunächst warf das 17. Jahrhundert mit seiner Devise „Vernunft und Erfahrung“ ideologische und religiöse Dogmen endgültig über Bord und bereitete den Weg für eine wissenschaftliche Theoriebildung. Auf der Suche nach dem verborgenen Mechanismus der Gezeiten stand nicht immer der Mond im Mittelpunkt des Interesses. Noch dem revolutionären Physiker Galileo Galilei (1564 –1642) waren von außen auf den Erdball einwirkende Kräfte völlig fremd. Für ihn galten Ebbe und Flut als Beweis für die Eigenrotation der Erde und ihren ketzerischen Weg um die Sonne. Die Schwungkraft der Erde, so Galilei, würde die Wassermassen der Meere nach außen drängen, um sie auf der Rückseite der Erdkugel zu einem Berg aufzuhäufen. Doch schon bald traten Mond und Sonne wieder in den Mittelpunkt der Erklärungsversuche.

Am Ende des Jahrhunderts hatte sich der Glaube, die Welt sei als mathematische Struktur denkbar und die Enträtselung ihrer Phänomene auf rechnerischem Wege möglich, zunehmend durchgesetzt. 1686 gelang Isaac Newton (1643–1727) eine erste mathematische Lösung des Gezeitenproblems. In seinem bahnbrechenden Hauptwerk „Philosophiae naturalis principia mathematica“ gab er eine theoretische Deutung des Auf und Ab des Meeres.

Was ihm vor allem gelang, war die Antwort auf eine Frage, die all seinen Vorgängern Kopfzerbrechen bereitet hatte: Warum gab es im Verlauf eines Tages zwei Wechsel von Ebbe und Flut; woher stammte der zweite Flutberg auf der dem Mond abgewandten Seite der Erde? Newton erklärte diesen Effekt mit der unterschiedlich starken Wirkung der Gravitationskräfte auf den festen Erdkörper und das Wasser. Dazu griff er auf ein vereinfachtes Modell zurück. Für seine Berechnungen war die Erde eine Kugel, die ringsum, einem Gürtel gleich, von einem Ozean umgeben war.

Doch unzählige an den Küsten und Häfen beobachtbare Abweichungen harrten weiterhin einer Erklärung. Noch 1738, elf Jahre nach Newtons Tod, veranstaltete die Académie Francaise dazu ein Preisausschreiben, das aber auch nur Teillösungen erbrachte. Zu verworren schien der Vorgang und zu gering die Kenntnisse um die inneren und äußeren Zusammenhänge der Gezeiten, als dass das Problem mit einem genialen Schlag zu lösen gewesen wäre.

Auch für Caspar Binninger blieb der unterschiedliche Verlauf der Gezeiten an den Gestaden der Weltmeere Basis seiner Kritik und Ausgangspunkt für die Entwicklung einer eigenen Theorie. Ungestüm lehnt er den Mond als Hauptverursacher der Gezeiten ab: „An tausend Orten findet man sehr deutliche Umstände, die offenbar beweisen, daß weder der Mond, noch seine Bewegung, die Ursache davon sind“ und weiter „Wo einerley Ursache ist, da muß auch einerley Wirkung seyn: Nun aber findet sich an allen den Orten, die ich angeführt habe, dies nicht; daher muß man den Schluß machen, daß auch an den übrigen Orten nicht der Druck des Mondes die Ebbe und Fluth verursacht.“

Der Druck des Mondes? Binninger spielt hier auf das Modell des gelehrten Jesuiten Honoré Fabris (1606–1688) an. Fabris glaubte, dass der Mond mit seinem Gewicht auf die Luft und diese wiederum auf das Wasser drücke, der Mond also quasi das Meer aushöhle. Binninger weiß diese Theorie lapidar zu entkräften, übersieht aber – oder verschweigt er es? –, dass diese Vorstellung längst nicht mehr zu der aktuellsten seiner Zeit zählte.

Dass Binninger sich nicht sehr intensiv um den Stand der Forschung bemüht hat, beweist er einige Zeilen später erneut: „Endlich wie werden sich denn die Anhänger dieser Meynung herauswickeln, wenn man sie fragt, warum die Ebbe und Fluth an unsern Ufern ebenso ordentlich erfolgt, wenn der Mond unter unserem Gesichtskreise, als wenn er über unsern Köpfen ist, und senkrecht über unsern Meeren steht?“ fragt er provokativ seine Leserschaft. Eine Frage, auf die längst eine Antwort, die von Newton, vorlag.


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mare No. 15

No. 15August / September 1999

Von Dietmar Fuhrmann

Dietmar Fuhrmann, Jahrgang 1961, ist Kunsthistoriker und wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Sächsischen Schlösserverwaltung in Dresden

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Vita Dietmar Fuhrmann, Jahrgang 1961, ist Kunsthistoriker und wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Sächsischen Schlösserverwaltung in Dresden
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