Vielleicht lag ein wenig Aufregung in der Luft, wie immer bei Dingen, die man im Geheimen tut. Sie waren 20, die da an einem Tag im August 1985 um die Glocke herumstanden. Der Entschluss war lange gefasst: Wenn der Dieksanderkoog, der früher einmal Adolf-Hitler-Koog hieß, 50 Jahre alt wird, holen sie die Glocke aus ihrem Versteck.
Die Glocke – einem großen Mann, wie Karl-Heinrich Thomsen einer ist, reichte sie bis an die Brust, von der Breite her kam sie an ein Wagenrad heran. Gut möglich, dass es einen Moment des Schweigens gab. Oder Unstimmigkeiten, wie es getan werden sollte, hier im Kreis der Eingeweihten, fernab der Jubiläumsfeierlichkeiten, wo sich die anderen amüsierten. Auf dem Hof eines Bauern fand ein Tanzvergnügen statt, bei einem anderen stand ein Festzelt, in dem Kaffee und Kuchen serviert wurden, und in der Gaststätte der Familie Hass war eine Ausstellung zur Geschichte des Kooges aufgebaut.
Die Inschrift auf der Glocke war noch lesbar: „Blut und Boden sind die Grundlage des deutschen Staates“. Nacheinander begannen die Männer nun jene Glocke zum Klingen zu bringen, die der Reichsnährstand 1936 gestiftet hatte. Karl-Heinrich Thomsen war als Letzter an der Reihe. Der Ton sei tief gewesen, wird Thomsen später sagen, „ein tiefer, melancholischer Klang“.
50 Jahre zuvor, am 29. August 1935, war das Wetter wenig hochsommerlich. Lieblich ist das Klima in Dithmarschen, zwischen Nordsee, Eider, Elbe und dem Nord-Ostsee-Kanal gelegen, nie. Eher rau als angenehm. An diesem Tag war es über Mittag plötzlich aufgeklart, eben noch hatte ein Sturm schwere Wolken über der Küste zusammengeschoben. Die Männer trugen Jacken über den Hemden, vielleicht, weil der Wind, der über die Deiche fegte, so frisch war. Vielleicht wollten sie ordentlich aussehen. Umherlaufende Fotografen machten zahllose Aufnahmen. Von den seltsam schmucklosen Höfen, immer 300 Meter auseinander. Von den weiten Haferfeldern. Im Boden, kurz zuvor noch Meeresgrund, steckte noch Salpeter. Das Getreide sollte die Erde davon befreien. Erst dann könnte der Kohl wachsen, Hunderte Hektar Kohl.
Es war schon nach 15 Uhr, als die Wagenkolonne des Führers endlich in die lange Straße am Deich einbog. Hitler saß im ersten Wagen. Er trug einen grauen Mantel und eine Schirmmütze, seine übliche Uniform. Für ihn war das Ganze ein Triumphzug, wieder einmal. Tausende ausgestreckte Armen entlang der Strecke, in Marne hatten die Massen in Ekstase „Heil Hitler!“ gebrüllt. Jetzt fing auch noch die Sonne an zu scheinen. Besser hätte man es kaum planen können. Langsam rollte das Auto unter einem Torbogen hindurch.
Jemand hatte ein Transparent daran befestigt. „Adolf-Hitler-Koog“ stand in dicken Lettern darauf. Vor dem Tor hatte eine Ehrenmannschaft der SA Stellung bezogen. Hinter dem Torbogen lag das Land offen da. Kein einziger Baum, nur die Ebene und weiter hinten die Deichlinie, die dem Horizont ein paar Meter abnahm. Auf dem Festplatz flatterten Hakenkreuzflaggen. Drei Mädchen mit langen Zöpfen begrüßten den Reichskanzler mit einem Knicks, Zwillingsschwestern und ein anderes Mädchen, sie waren eigens in der Nachbarschaft zusammengesucht worden, die Blondesten unter den Blonden. „Wenn wir auf diesem neuen Land stehen“, rief Adolf Hitler schließlich in das Mikrofon, das man ihm hingestellt hatte, „so wollen wir zwei Erkenntnisse niemals vergessen: Arbeit allein hat dieses Werk geschaffen. Möge das deutsche Volk niemals vergessen, dass zu allen Zeiten niemals das Leben den Menschen als Geschenk gegeben ist. Sondern dass es stets schwer erkämpft und durch Arbeit errungen werden musste. Und die zweite Erkenntnis: So wie hier jeder Quadratmeter dem Meere abgerungen und mit unermüdlicher, tapferer Hingabe beschirmt werden muss, so muss alles, was die Gesamtnation schafft und baut, von allen deutschen Volksgenossen ebenso beschirmt werden.“ Vor der Bühne standen die Bauern im Festtagsstaat, auch der Vater von Karl-Heinrich Thomsen. Die Kameras der Fotografen fingen strahlende, stolze Gesichter ein. Die Stimmung sei ausgelassen gewesen, berichten die „Hamburger Nachrichten“ später. Es gab ja auch einiges zu feiern. Nicht nur, dass die Truppen des Reichsarbeitsdiensts aus einstigem Meeresgrund Neuland gewonnen hatten. Sondern auch, dass darauf ein ganz neuer Bauerntypus herangezüchtet werden sollte. Arisch und nationalsozialistisch.
Auf die Windschutzscheibe prasselt der Regen. Die Landschaft ist wie in graue Tücher gepackt, selbst die Schafe drücken sich flach auf den Boden. Das einzig freundliche Licht stammt von den Scheinwerfern der wenigen Autos, die das Wasser in den Pfützen hochspritzen lassen. Dieksanderkoog besteht aus drei Straßen, es gibt keinen Marktplatz, dafür aber eine evangelische Kirche. Die ursprünglichen Siedler sind längst tot, aber ihre Nachkommen sind noch hier. Nicht mehr viele, vielleicht weniger als ein Dutzend, die tatsächlich noch in Dieksanderkoog wohnen.
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Susanne Frömel schreibt unter anderem für „Geo“. Sie lebt selbst auf dem Dorf, könnte sich ein Leben auf Dieksanderkoog aber trotzdem nicht vorstellen – in einer Landschaft ohne Bäume und Hügel fühlte sie sich einfach zu ungeborgen.
Der italienische Fotograf Sirio Magnabosco, 27, wohnt seit zwei Jahren in Berlin, wo er sich, nach eigener Auskunft, immerhin auf deutsch ein Bier bestellen kann. Noch bis zum 2. November zeigt das Dithmarscher Landesmuseum in Meldorf die Ausstellung „Dithmarschen und der Nationalsozialismus“.
Vita | Susanne Frömel schreibt unter anderem für „Geo“. Sie lebt selbst auf dem Dorf, könnte sich ein Leben auf Dieksanderkoog aber trotzdem nicht vorstellen – in einer Landschaft ohne Bäume und Hügel fühlte sie sich einfach zu ungeborgen.
Der italienische Fotograf Sirio Magnabosco, 27, wohnt seit zwei Jahren in Berlin, wo er sich, nach eigener Auskunft, immerhin auf deutsch ein Bier bestellen kann. Noch bis zum 2. November zeigt das Dithmarscher Landesmuseum in Meldorf die Ausstellung „Dithmarschen und der Nationalsozialismus“. |
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Person | Von Susanne Frömel und Silvio Magnabosco |
Vita | Susanne Frömel schreibt unter anderem für „Geo“. Sie lebt selbst auf dem Dorf, könnte sich ein Leben auf Dieksanderkoog aber trotzdem nicht vorstellen – in einer Landschaft ohne Bäume und Hügel fühlte sie sich einfach zu ungeborgen.
Der italienische Fotograf Sirio Magnabosco, 27, wohnt seit zwei Jahren in Berlin, wo er sich, nach eigener Auskunft, immerhin auf deutsch ein Bier bestellen kann. Noch bis zum 2. November zeigt das Dithmarscher Landesmuseum in Meldorf die Ausstellung „Dithmarschen und der Nationalsozialismus“. |
Person | Von Susanne Frömel und Silvio Magnabosco |