Hiroshi Sugimoto

Seit mehr als 30 Jahren beschäftigt sich der japanische Fotokünstler mit den tausend Arten des Meeres. In seinen minimalistischen Arbeiten geht es ihm vor allem um Kontemplation und Reflexion

Wie ein Samuraischwert durchschneidet der Horizont das Motiv. Wie eine schnurgerade Linie teilt er das Bild in zwei gleich große Hälften. Das Oben getrennt vom Unten, das fast Weiße des Himmels vom Dunkelgrau des Wassers. Milchig, strukturlos, von keinem Sonnenstrahl durchdringbar wirkt der Himmel, ruhig liegt die Wasseroberfläche da. Bei näherer Betrachtung lassen sich leichte Wellenbewegungen erkennen. Aufgenommen wurde das Bild 2002. Dass der Betrachter dabei auf den Nordpazifik vor Ohkurosaki blickt, erfährt er lediglich durch ein kleines Schild an der Wand. Sonst weist nichts hin auf Zeitpunkt oder Ort der Aufnahme. „Bei meinen Fotos“, sagt der japanische Fotokünstler Hiroshi Sugimoto, „geht es mir vor allem um Kontemplation und Reflexion.“

Ein Thema, das sich durch sämtliche Werke Sugimotos zieht – angefangen bei seiner ersten Bilderserie, den „Dioramas“, die ausgestopfte Tiere in künstlichen Landschaften zeigt, fotografiert im New Yorker Natural History Museum. Oder auch später, etwa bei den „Theaters“, langzeitbelichteten Aufnahmen von Kinos, für die der Japaner den Blendenverschluss während des ganzen Films geöffnet ließ und damit die bewegten Bilder zu einer weißen Leinwand kondensierte. Nirgends aber kommt Sugimotos künstlerisches Selbstverständnis besser zur Geltung als bei seinen „Seascapes“, für die er zwischen 1980 und 2003 um die Welt reiste und das Meer mit seiner Kamera festhielt – immer aus der gleichen, leicht erhöhten Perspektive.

Doch ob der Horizont messerscharf gezogen scheint wie vor Ohkurosaki, ob er stark verschwommen ist und dadurch kaum wahrnehmbar wie auf einer Aufnahme der Ägäis im griechischen Pilion aus dem Jahr 1990, ob man auf eine fast schwarze Wasseroberfläche blickt wie in der Aufnahme vom Ligurischen Meer bei Framura aus dem Jahr 1993: immer verströmen die Schwarz-Weiß-Bilder eine faszinierende Aura von Ort- und Zeitlosigkeit. „Das Meer“, sagt Sugimoto, „ist für mich Sinnbild von Anfang und Ende.“

An seine erste vitale Begegnung mit dem Meer erinnert sich Sugimoto bis heute. Er nennt sie „eine Art Erweckungserlebnis“. „Natürlich muss ich das Meer schon früher gesehen haben, doch das ist meine früheste und lebhafteste Erinnerung daran: Ich erblickte es aus einem Zug der Tokaido-Linie, von dem aus die See von links nach rechts an mir vorbeisauste. Es muss im Herbst gewesen sein, denn der Himmel war von einer gewaltigen, die Augen öffnenden Klarheit. Wir fuhren weit oben auf einer Klippe entlang, und das Meer flimmerte weit unten gleich einzelnen Filmbildern und verschwand dann hinter den Felsen“, erzählt er. „Die Horizontlinie, wo das blaue Meer auf den leuchtenden Himmel traf, war scharf wie eine Rasierklinge. Gefangen von dieser verblüffenden, doch zugleich auch seltsam vertrauten Szene, hatte ich das Gefühl, auf eine Urlandschaft zu blicken. Vielleicht mutet es seltsam an, dass ein Kind Erinnerungen an ein Vorleben haben soll, und noch viel seltsamer die Worte, diese auszudrücken.“

Vier Jahre war Sugimoto damals alt – die außerordentlich intensive Wirkung dieses Ereignisses hat ihn nicht mehr losgelassen. Die Bilder brannten sich in Sugimotos Gedächtnis ein, der Eindruck dieser Urgewalt sollte sein gesamtes Leben beeinflussen. „Nicht eine Wolke am Himmel, ein scharf umrissener Horizont, endlose Wellen, die von Weitem heranwogen. Als ich dieses Bild sah, war mir, als ob ein Teil meines kindlichen Bewusstseins aus einem langem Traum erwachte. Ich blickte auf meine Hände und meine Füße. Und dann war es, als ob ich in diesem Meeresbild aufgegangen wäre. In diesem Moment begann mein Leben.“ Das Meer ist bis heute zentraler Ausgangspunkt in Sugimotos künstlerischer Arbeit. „Obwohl das Land ständig seine Form ändert, ist das Meer un-veränderlich. So begannen meine Reisen zurück in die antiken Meere der Welt“, schreibt er im Katalog seiner großen Retrospektive, die 2007 in Düsseldorf erstmals gezeigt wurde, über Salzburg nach Berlin wanderte und demnächst in Luzern zu sehen sein wird.


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mare No. 71

No. 71Dezember 2008 / Januar 2009

Von Claudine Engeser

Claudine Engeser, 43, Kulturjournalistin aus Köln, schreibt für verschiedene Kulturmagazine, kuratiert Kunstausstellungen und betreibt einen Literatursalon. Ende der neunziger Jahre hat sie in einer New Yorker Ausstellung erstmals Hiroshi Sugimotos „Seascapes“ gesehen und war sofort fasziniert von der atmosphärischen Dichte der Fotografien, die sie seither nicht mehr loslassen.

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Vita Claudine Engeser, 43, Kulturjournalistin aus Köln, schreibt für verschiedene Kulturmagazine, kuratiert Kunstausstellungen und betreibt einen Literatursalon. Ende der neunziger Jahre hat sie in einer New Yorker Ausstellung erstmals Hiroshi Sugimotos „Seascapes“ gesehen und war sofort fasziniert von der atmosphärischen Dichte der Fotografien, die sie seither nicht mehr loslassen.
Person Von Claudine Engeser
Vita Claudine Engeser, 43, Kulturjournalistin aus Köln, schreibt für verschiedene Kulturmagazine, kuratiert Kunstausstellungen und betreibt einen Literatursalon. Ende der neunziger Jahre hat sie in einer New Yorker Ausstellung erstmals Hiroshi Sugimotos „Seascapes“ gesehen und war sofort fasziniert von der atmosphärischen Dichte der Fotografien, die sie seither nicht mehr loslassen.
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