Himmelskönig, Strandpoet

Wie besessen malte Eugène Boudin seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Strände seiner Heimat Normandie. Seine Bilder sind nicht allein Landschafts-, sondern ebenso sehr Gesellschaftsporträts

Ich bin ein Isolierter, ein verträumter Einzelgänger. Ein Spinner, der Gefallen daran gefunden hat, in seinem kleinen Winkel zu bleiben und den Himmel zu betrachten. Die Zukunft wird aus mir machen, was sie aus den meisten von uns macht: Ich fürchte, mit mir hat sie vor, dass ich in Vergessenheit gerate.“ Der diese Zeilen zu Papier brachte und so gelassen wie resigniert zu seinem Lebenswerk Stellung nahm, blieb der Nachwelt gottlob erhalten und fand, seinem eigenbrötlerischen Naturell zum Trotz, rechtzeitig seinen verdienten Platz in der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts.

Eugène Boudin, der in einem beispiellosen Schaffensrausch an die 4000 Gemälde und mehr als 6000 Studien, Aquarelle, Gouachen, Skizzen und Kreidezeichnungen fertigstellen sollte, gilt heute als Wegbereiter des Impressionismus. Kaum ein Küstenabschnitt in der Normandie, kaum ein Uferstreifen im Norden Frankreichs, den er nicht auf einem seiner marines verewigt hat – faszinierende, atmosphärische Seestücke, auf denen die meist stille Oberfläche des Meeres das untere, Himmel und Wolkendecke die oberen zwei Drittel ausmachen. Auf denen sich gestrandete Kähne, Schiffsmasten, von der Brise geblähte Segel, spielende Kinder, vereinzelte Zugpferde oder im Wind flatternde Trikoloren verlieren oder nur noch von Weitem, als winzige Farbpartikel, wahrnehmbar sind. Wie so viele andere Künstler seiner Generation näherte sich auch Boudin, der den jungen Claude Monet an die Freilichtmalerei heranführte, dessen Technik und Bildkraft von Charles Baudelaire und Émile Zola gepriesen wurde und der Constant Troyon, Eugène Isabey, Jean-François Millet, Gustave Courbet, Jean-Baptiste Camille Corot sowie Johan Barthold Jongkind zu seinen Förderern, Vorbildern, Wegbegleitern und Freunden zählte, im späten 19. Jahrhundert, in den vier Dekaden zwischen Second Empire und der République unter Félix Faure, der Abstraktion.

Boudins Bilder, fast ausnahmslos Querformate mittlerer Größe, verströmen eine kontemplative Ruhe und sind von einer mal heiteren und ausgeglichenen, dann wieder gleichgültigen und trivialen Grundstimmung gekennzeichnet. Hektik, Dramatik und Bewegung sind aus ihnen verbannt. Das Wasser erscheint nicht als gefährliches, zerstörerisches oder todbringendes Element; der Ozean, nur selten sturmgepeitscht oder in Aufruhr, gleicht bei Boudin einer friedlichen, geglätteten Seelenlandschaft, in der sich die changierenden Nuancen des mit ihr verschwisterten Himmelszelts spiegeln. Noch öfter ergänzen sich die beiden Flächen, Meer und Luft, zu einem harmonischen Ganzen, in das gelegentlich anonyme Menschengruppen eingefügt werden, als gehe es nur darum, den Bildaufbau zu gliedern und zu rhythmisieren. Individuen sind dabei kaum auszumachen, und stets kehren solche Ansammlungen dem Betrachter den Rücken zu.

Boudin präsentierte von Zeit zu Zeit zwar auch die arbeitende Bevölkerung, Wäscherinnen und Fischverkäufer, Arbeiter und Krabbenfänger. Doch besonders häufig nahm er Müßiggänger in den Blick, die dem maritimen Zeitvertreib frönen: wohlhabende Flaneure, auf Stühlchen im Sand hockende elegante Damen, ununterscheidbar, konturenlos ineinander verschwimmend, sowie deren Accessoires: Hüte und Reifröcke, rollbare Badekabinen und Sonnenschirme, Spazierstöcke und feine Anzüge, Kutschen und ausgebreitete Decken. Kein Zweifel, Städter in fremder Umgebung. Und, schemenhaft nur, ihr Dienstpersonal, das zu ihren Füßen ein Picknick anrichtet. Nie steht ein Einzelner oder ein Paar im Zentrum an diesen Gestaden. Boudins Figuren, weit aus dem Vordergrund weggeschoben, verdecken den Horizont, breiten sich dort aus, oft nach Geschlechtern getrennt, und wirken geradezu leblos. So als habe ein Zuschauer dieses lethargischen Bade- und Strandlebens plötzlich die Pausentaste gedrückt. Im Mittelpunkt stehen Natur und Wetterlage, das Wechselspiel unzähliger Grautöne, die unmerklichen Abstufungen des Lichtes an der Küste. „Nicht ein einziges Mal wird es mir widerfahren“, so konstatierte Baudelaire in seiner Boudin-Eloge mit Erstaunen und Genugtuung, „dass ich mich, angesichts dieser luftigen und flüssigen Magie [auf diesen Gemälden], über die Abwesenheit von Menschen beklagen müsste.“ Boudin zeigte in der Tat keine Personen, sondern allenfalls Typen, Repräsentanten einer begüterten, privilegierten Schicht, über deren kuriose Präsenz am Meeresufer weder geurteilt noch gespottet wird.

Kreativität wurde dem Autodidakten aus dem Département Calvados keinesfalls in die Wiege gelegt. Und die intensive künstlerische Betrachtung vornehmer Kreise oder der Pariser haute société bei ihren mondänen Freizeitvergnügungen erst recht nicht. Boudin, 1824 im normannischen Hafenstädtchen Honfleur geboren, entstammte einer Familie einfacher Schiffsleute. Der Ärmelkanal und der estuaire, die gewaltige Flussmündung der Seine, waren seine Heimat. Seine ärmliche Kindheit verbrachte er an Bord von Dampfschiffen und Fähren. Jahrelang leistete der Knabe seinem Vater Léonard-Sébastien Gesellschaft, wenn jener auf der „Polichinelle“ zwischen Honfleur und dem Binnenhafen von Rouen hin- und herpendelte, umgeben von einer einzigartigen, oft unwirklichen Licht- und Geräuschkulisse.


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mare No. 98

No. 98Juni / Juli 2013

Von Jens Rosteck

Jens Rosteck, Jahrgang 1962, promovierter Musikologe und Literaturwissenschaftler, lebt als Musikforscher, Kulturgeschichtler, Buchautor und Biograf in Südfrankreich. Für mare schrieb er Essays über Marguerite Duras, über Meer und Musik sowie zu George Sand und Frédéric Chopin. Das Pariser Musée Jacquemart-André zeigt noch bis zum 22. Juli seine große Boudin-Retrospektive (www.expo-eugeneboudin.com).

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Vita Jens Rosteck, Jahrgang 1962, promovierter Musikologe und Literaturwissenschaftler, lebt als Musikforscher, Kulturgeschichtler, Buchautor und Biograf in Südfrankreich. Für mare schrieb er Essays über Marguerite Duras, über Meer und Musik sowie zu George Sand und Frédéric Chopin. Das Pariser Musée Jacquemart-André zeigt noch bis zum 22. Juli seine große Boudin-Retrospektive (www.expo-eugeneboudin.com).
Person Von Jens Rosteck
Vita Jens Rosteck, Jahrgang 1962, promovierter Musikologe und Literaturwissenschaftler, lebt als Musikforscher, Kulturgeschichtler, Buchautor und Biograf in Südfrankreich. Für mare schrieb er Essays über Marguerite Duras, über Meer und Musik sowie zu George Sand und Frédéric Chopin. Das Pariser Musée Jacquemart-André zeigt noch bis zum 22. Juli seine große Boudin-Retrospektive (www.expo-eugeneboudin.com).
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