Himmel und Hölle

Eine Kurzgeschichte

Immer wieder liest man in der Zeitung von Menschen, die spurlos und unauffindbar verschwinden. Der eine geht die Post holen und kehrt nicht zurück; der nächste bringt den Müll in den Hof und wird nie wieder gesehen. Es bleibt wohl für immer ihr Geheimnis, aus welchen Gründen sie gegangen sind.

Auch ich bin einer von ihnen, seit über zehn Jahren bin ich fort, und niemand weiß, was passiert ist mit mir. Meine armen Eltern rätseln noch heute über meinen Verbleib, und würde ich sie über alles aufklären und schildern, was seinerzeit geschehen ist, sie würden mir wahrscheinlich nicht glauben. Offen gestanden habe ich diese Zweifel auch jetzt, wo ich Ihnen meine Geschichte erzählen will, und wäre sie mir nicht selbst zugestoßen, so hielte auch ich eine solche Begebenheit schlichtweg für baren Unsinn. Es hat sich aber genau so zugetragen, wie ich es im folgenden schildere:

Ich war damals sieben Jahre alt, es war ein heißer, langer Sommer, und ich fuhr mit meinen Eltern zum ersten Mal ans Meer. Die mächtigen, tobenden Wellen machten mir, der ich zuvor nie derartiges gesehen hatte, große Angst; schwimmen konnte ich noch nicht, und meine Furcht vor diesen gewaltigen Brechern, die mitunter dreimal so hoch waren wie ich selbst, war entsprechend groß. Nach zwei Tagen erst wagte ich mich zumindest in ihre Nähe – freilich erst an der Hand des Vaters, der mich ermahnte, ihnen nicht zu nahe zu kommen, sie könnten mich mitreißen, warnte er. Gierige, alles verschlingende Wellen, ihr sollt mich nicht kriegen! Erschrocken wich ich jedesmal zurück, wenn sie an meinen Füßchen leckten, wenn sie tobten und johlten, – das Meer, das so herrlich blaue und ruhige Meer dort draußen, immer wieder schickte es diese wilden, gefährlichen Unholde an die Küste. Wie froh und erleichtert saß ich dann wieder zwischen meinen Eltern im Strandkorb und sah erschrocken und besorgt zu, wie sich immer wieder jemand in schier selbstmörderischer Absicht in die Fluten stürzte.

Einmal fuhr ich mit meinem Vater auf einem Boot hinaus aufs blaue Meer. Wir waren schon ein großes Stück vom Festland entfernt, so weit, daß ich nicht einmal mehr den Strandkorb, in dem meine Mutter saß, ausmachen konnte. Irgendwann erzählte mir mein Vater, an einigen Stellen sei das Meer unvorstellbar tief, tiefer als der Weg von unserem Haus bis zu meiner Schule und wieder zurück! Ich dachte daran, daß ich fast eine Viertelstunde mit dem Schulbus für diese Strecke brauchte, und als ich einmal mit meinem Freund den Weg zu Fuß gehen mußte, weil wir den Bus verpaßt hatten, da mußten wir länger als eine Stunde marschieren. Und das Meer sollte sogar noch tiefer sein als die doppelte Strecke? Ausgeschlossen, mein Vater mußte sich irren!

Doch er erzählte noch mehr: Kalt soll es dort unten sein, kalt und dunkel, und nur ganz wenige Lebewesen würden dort leben. Es sei da unten so finster, erzählte er, daß man nichts, aber auch gar nichts sehen könnte, und die Tiere dort wären blind und kämen nie an die Oberfläche. Was gab es Schaurigeres als die Vorstellung, in dieser unglaublichen Tiefe und Dunkelheit und Kälte zu leben?! Hier oben war das Wasser warm und blau und freundlich, und direkt unter uns, unter unserem Boot, in dem wir saßen, sollte alles ganz anders sein? In den folgenden Tagen hielt ich mich vom Wasser möglichst fern, buddelte im Sand, kaufte mir ein Eis oder setzte mich auf eine der großen Schaukeln am Strand.

Nach ein paar Tagen fuhren meine Eltern und ich wieder zurück nach Haus, die Schule begann, ich kam in eine neue Klasse. Dort gab es einen Mitschüler, ein dicker, kurzhaariger Bursche, der stets irgendwelchen Blödsinn ausheckte. Auch ich war bald das Ziel seiner Neckereien – wie oft versteckte er meinen Schulranzen, klebte ein Kaugummi auf meinen Stuhl, warf mir Papierkügelchen in den Nacken! Ich war außerstande, mich zur Wehr zu setzen, bloß einmal habe ich es versucht und ihn zur Rede gestellt. Er aber hat mich lachend beiseite geschubst, und ich fiel in den Kasten mit den Kakaotüten, die in der großen Pause an die Schulklassen verteilt wurden.

Von da an war ich das bevorzugte Ziel seiner üblen Streiche. Zu Haus erzählte ich nichts davon, niemand sollte von meiner täglichen Schmach in den Pausen erfahren und niemand wissen, was für ein Hasenfuß ich war.

Ein beliebtes Spiel in den Schulpausen war in jener Zeit Himmel und Hölle; dabei galt es, bestimmte, auf dem Boden markierte Felder entweder zu überspringen oder zu erreichen. Ich bewies großes Geschick bei diesem Spiel, und als ich eines Nachmittags allein zu Haus war und mich langweilte, kam mir eine Idee: Zwar konnte ich auf den Fußboden unserer Wohnung keine Muster und Quadrate malen, meine Eltern hätten sicherlich fürchterlich mit mir geschimpft, doch die Muster der Teppiche, das große Sofa, die Kommode und die Stühle taten es ebenso. Und so hüpfte ich oft an diesem Nachmittag über Teppich-Himmel und Sofa-Hölle und erreichte stets glücklich das Ziel: Von dem Stuhl im Flur, gleich bei der Kommode, ging es schließlich auf das letzte rettende grüne Rechteck-Muster des Läufers, kurz vor der Wohnungstür.

Eines Schultages trieb es der Mitschüler besonders schlimm mit mir: Heimlich hatte er in meinen Schulranzen ein kleines Mäuschen gesteckt, und als ich darin nach meinem Griffel suchen wollte, entdeckte ich das arme Tier und erschrak so sehr darüber, wie es mich aus dem Dunkel des Ranzens mit seinen kleinen ängstlichen Knopfaugen ansah, daß ich einen Schrei ausstieß.

Ich war der größte Kneifer von allen, jetzt hatte man es schwarz auf weiß – selbst vor Mäusen fürchtete ich mich!

Als ich am Nachmittag allein und betrübt zu Haus in meinem Zimmer saß, kam mir jenes Spiel wieder in den Sinn. Ich verrückte die Teppiche, stellte die Stühle um, verrückte auch das große Sofa im Wohnzimmer – dann konnte das Spiel beginnen: Feuer und Wasser sollten jetzt die Hindernisse heißen, die es um jeden Preis und bei Gefahr des Lebens zu überspringen galt. Ich wollte kein Feigling sein, das mußte ich mir hier und heute beweisen!

Das Rote der Teppiche, das war die Ewige Finsternis, die Hölle, das Fegefeuer. Sollte ich eine dieser roten Stellen auch nur mit meiner Fußspitze berühren, wäre es vorbei gewesen mit mir – ich müßte jämmerlich in der Hölle schmoren. Aber das war noch gar nichts gegen das, was die blauen Felder bedeuteten: Sollte ich auf ihnen landen, dann würde mich die dunkle, kalte, leblose Tiefe des Meeres erwarten, aus der es ebensowenig ein Zurück gab! Vor den blauen Feldern fürchtete ich mich noch viel mehr als vor den roten. Rettung waren sowohl die kleinen grünen Muster als auch sämtliche Stühle und das Sofa – sie zu erreichen und die blauen und roten Felder der Teppiche zu überspringen, war das Ziel meines Spieles. Auf einem dieser grünen Felder stand ich nun, und um auf das nächste zu kommen, mußte ich ein kleines, etwa drei Handbreit schmales, rotes Stück überwinden, eine Kleinigkeit, die ich ohne Schwierigkeit meisterte. Geschickt sprang ich auf den Küchenstuhl, zwar wackelte er dabei ein wenig, doch ich war in Sicherheit. Auch das nächste rote Feld war keine große Gefahr, vom Küchenstuhl hüpfte ich auf das Sofa, die rettende Insel zwischen der Feuersbrunst und dem elendigen Ertrinken im tiefen, kalten Wasser.


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mare No. 13

No. 13April / Mai 1999

Von Markus Seidel und Ueli Etter

Markus Seidel wurde 1969 in Wilhelmshaven geboren, studierte Philosophie und Germanistik. Heute lebt er als freier Autor in Berlin. 1998 erschien sein erster Roman: Umwege erhöhen die Ortskenntnis, Verlag Rütten und Loening, Berlin, 143 S., 32 Mark.

Ueli Etter, Jahrgang 1963, ist in der Schweiz aufgewachsen und besuchte die Hochschule der Künste, Berlin. Seit 1983 zahlreiche Installationen, Performances und Ausstellungen. Etter lebt heute als freier Künstler in Tel Aviv; im Mai wird er sein Projekt Park in der Galerie Zwinger, Berlin, vorstellen

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Vita Markus Seidel wurde 1969 in Wilhelmshaven geboren, studierte Philosophie und Germanistik. Heute lebt er als freier Autor in Berlin. 1998 erschien sein erster Roman: Umwege erhöhen die Ortskenntnis, Verlag Rütten und Loening, Berlin, 143 S., 32 Mark.

Ueli Etter, Jahrgang 1963, ist in der Schweiz aufgewachsen und besuchte die Hochschule der Künste, Berlin. Seit 1983 zahlreiche Installationen, Performances und Ausstellungen. Etter lebt heute als freier Künstler in Tel Aviv; im Mai wird er sein Projekt Park in der Galerie Zwinger, Berlin, vorstellen
Person Von Markus Seidel und Ueli Etter
Vita Markus Seidel wurde 1969 in Wilhelmshaven geboren, studierte Philosophie und Germanistik. Heute lebt er als freier Autor in Berlin. 1998 erschien sein erster Roman: Umwege erhöhen die Ortskenntnis, Verlag Rütten und Loening, Berlin, 143 S., 32 Mark.

Ueli Etter, Jahrgang 1963, ist in der Schweiz aufgewachsen und besuchte die Hochschule der Künste, Berlin. Seit 1983 zahlreiche Installationen, Performances und Ausstellungen. Etter lebt heute als freier Künstler in Tel Aviv; im Mai wird er sein Projekt Park in der Galerie Zwinger, Berlin, vorstellen
Person Von Markus Seidel und Ueli Etter