Hilfe bei Störung des Drüsensystems

Was die Meeresfrische in Kopf und Bauch bewirkt

Das Meer ist Heilquelle und reinigende Kraft. Von dieser Hoffnung ist das Abendland seit der griechischen Antike geradezu besessen. Im Jahre 414 v. Chr. schreibt Euripides in seiner „Iphigenie bei den Taurern“: „Das Meer wäscht und säubert von jeglichem menschlichen Schmutze.“ Wenn es jedoch in der medizinischen Literatur oder nach dem Gemeinverständnis ums Meer geht, ist nicht die Hochsee gemeint, sondern das Küstengebiet – als Berührungspunkt der Elemente, als Vereinigung von Erde, Welle und Wind. Im Übrigen bedeutet die seit Euripides so oft gestellte Frage „Waren Sie schon einmal am Meer?“ nicht, ob man zur See gefahren, sondern ob man schon einmal in kontemplativer oder zumindest zuschauerhafter Haltung am Meeresufer gewesen sei.

Die alten Römer erfreuten sich an den Küstenwegen. Der Spaziergang am Meer, der Ausflug in der Barke, die Festessen am Strand fügten sich ganz natürlich dem „otium“ ein, dem kultivierten Zeitvertreib, der die Freuden der Gastlichkeit, des Nachdenkens, des Lesens und des philosophischen Gesprächs verband und nur vorübergehend von der Ausübung der Amtsgeschäfte unterbrochen wurde. Aber die Mitglieder der römischen Elite, die sich im Kurort Baiae bei Neapel drängten, schwammen nicht im Meer. Ihre Badekultur führte sie in Thermen, deren Ruinen überall auf dem Gebiet des früheren römischen Reiches zu finden sind.

Von da an bereitete das Meer fast ein Jahrtausend lang Entsetzen. Man dachte es sich von Monstren bevölkert, und vor allem las man es symbolisch. Zwar ermöglichte es die Verbreitung des Wort Gottes, es begünstigte die Pilgerfahrten und den Handel. Aber man fürchtete seine Fallen. Die von der Malaria verseuchten, dem Übergriff von Piraten ausgesetzten Mittelmeerstrände waren abstoßende Orte. Wie die anderen unbegrenzten Räume – die Wüste, der Wald, die Berge – hatten die Meeresstrände ihren Anteil am Schreckeinflößenden.

Ab dem 16. Jahrhundert änderte sich dies, wenn auch langsam. 1621 riet Robert Burton den Melancholikern, das bewegte Meer und seine Küsten zu betrachten: Er pries die Sommerfrische an der See. Nur wurde er kaum angehört. Aber der Gentry, dem englischen Landadel, lag der Sport zunehmend am Herzen. Namentlich die Gewohnheit, im Fluss zu baden, bereitete nach und nach den Boden für die Würdigung der Küsten. Der plötzliche Ausbruch der Meereslust vollzog sich in England zwischen 1750 und 1755. Es war dies die Geburt des Strandes.

Zuvor schon hatten sich die Thermalkurorte im Landesinnern eines wachsenden Zuspruchs erfreut. Die Stadt Bath war damals das Modell des „Spa“ schlechthin. Dort trafen die Aristokratie, die geistige Elite und die Gentry aufeinander. Die Kurgäste badeten, gingen spazieren, führten Gespräche im Salon und lasen. Die Geselligkeit war streng ritualisiert.

Der Arzt Richard Russell kannte die Vorzüge dieser kalten Quellen und des von ihnen hervorgerufenen Schauders. Zwar war er der Ansicht, dass sie für ängstliche Personen, für Kinder, Kränkelnde und Frauen nur schwer erträglich seien. Dennoch studierte er die therapeutischen Qualitäten des Meeres, begeistert von den biblischen Psalmen, die die Schönheiten und Kräfte der Natur verherrlichen, und beeindruckt von den fruchtbaren Tiefen und der Stärke der Lebenskräfte, die die Gewässer in sich tragen. Zugleich gequält von der Frage nach dem Bösen, kam er zu dem Schluss, dass der Schöpfer den Menschen das Mittel an die Hand gegeben haben musste, dieses Böse zu bekämpfen. Und was gibt es Kraftvolleres in der Schöpfung als die Ozeane?

Russell nahm also an, dass sie bislang unbekannte Heilwirkungen in sich bergen. Zusammen mit einigen wenigen Mitstreitern erkundete er die Wirkungen der Seebäder. Er stellte fest, dass sich der Zustand von Kranken mit Störungen des Drüsensystems verbesserte und dass Frauen, die an Kraftlosigkeit litten, schneller genasen. So brachte er das Seebad Brighton in Mode – er löste einen wahren „rush“ aus. Man eilte von London fort in den Badeort, und die Ärzte begannen, den Zeitplan der Kurgäste zu diktieren.

Doch vor dem Erfolg der Badeorte, den später der Hochadel und die Mitglieder der königlichen Familie begründeten, legte Russell die Eigenschaften eines guten Badestrandes fest. Das Meer, in das sich der Kurgast begibt, sollte drei maßgebliche Bedingungen erfüllen: Es musste kalt oder zumindest frisch sein, salzhaltig und ungestüm. So sollte der Badende mit den Kräften des Ozeans konfrontiert werden. Das Schauspiel des unermesslichen Meeres, das brutale Überschlagen der Wellen, die medizinischen Aufgüsse und Bäder im Inneren der Kureinrichtungen, die entlang der englischen Küste entstanden, konnten nun zur Heilung der Krankheiten und der Unpässlichkeiten der Frauen dienen.

Die praktischen Ärzte empfahlen unfruchtbaren Eheleuten Meerbäder und Dünenspaziergänge. Den Kropfleidenden – wie dem Sohn König Georgs III., dem späteren Georg IV. – rieten sie zu Meeresbädern. Vom Meerwasser versprachen sie sich, dass es jungen Mädchen eine unbeschwerte Pubertät verschaffe. Ausdrücklich schrieben sie allen vor, beim „zweiten Frösteln“ sofort das Wasser zu verlassen. Sie setzten die Anzahl der Bäder fest, die während einer Saison zu nehmen waren. Die dem Zwerchfell entgegengebrachte Aufmerksamkeit – ein Horchen ins Innere des eigenen Körpers, auf das, was Diderot „das Rumoren der Eingeweide“ nannte – sowie die Besorgnis über die krankmachenden Großstädte – solche Momente brachten den Küsten ihren Aufschwung. Zuletzt entthronten Brighton, Weymoth und Margate gar die schottischen Heilbäder.


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mare No. 19

No. 19April / Mai 2000

Ein Essay von Alain Corbin

Alain Corbin, 1936 in Gourtomer/Frankreich geboren, lehrt Geschichte des 19. Jahrhunderts an der Pariser Sorbonne. Sein 1988 erschienenes Buch Meereslust – Das Abendland und die Entdeckung der Küste gehört zu den Klassikern der Meeresliteratur. Dieser Essay entstand exklusiv für mare.

Die Geschichte der deutschen Seebäder schilderte Henning Sietz in mare No. 8; in No. 2 beschrieb D. Holland-Moritz die Seebrücken entlang der englischen Südküste

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Vita Alain Corbin, 1936 in Gourtomer/Frankreich geboren, lehrt Geschichte des 19. Jahrhunderts an der Pariser Sorbonne. Sein 1988 erschienenes Buch Meereslust – Das Abendland und die Entdeckung der Küste gehört zu den Klassikern der Meeresliteratur. Dieser Essay entstand exklusiv für mare.

Die Geschichte der deutschen Seebäder schilderte Henning Sietz in mare No. 8; in No. 2 beschrieb D. Holland-Moritz die Seebrücken entlang der englischen Südküste
Person Ein Essay von Alain Corbin
Vita Alain Corbin, 1936 in Gourtomer/Frankreich geboren, lehrt Geschichte des 19. Jahrhunderts an der Pariser Sorbonne. Sein 1988 erschienenes Buch Meereslust – Das Abendland und die Entdeckung der Küste gehört zu den Klassikern der Meeresliteratur. Dieser Essay entstand exklusiv für mare.

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