High Noon zwischen Dünen und Salinen

Die Camargue machte einst Hollywood Konkurrenz. In den Kindertagen des Films, am Anfang des vergangenen Jahrhunderts, wurden hier dutzendweise Western gedreht

Die Dampfbahn, die unter Gluthitze durch die unendlichen Weiten des Wilden Westens zuckelt, spuckt weißen Rauch. In einem Abteil sitzt der Cowboy Tom Burke, der nervös an den Fingernägeln kaut. Er ist auf dem Weg nach Silver City, um einen verborgenen Claim auszubeuten. Ein Goldschürfer hat ihm auf dem Sterbebett von dem geheimnisvollen Fund erzählt. Doch schon naht Konkurrenz. Der Cowboy Joe Baker hat ebenfalls Wind vom versteckten Schatz bekommen, will den Lageplan erbeuten und die Nuggets ganz für sich allein haben. Auf seinem Pferd galoppiert er in halsbrecherischem Tempo an die Bahnstrecke heran.
Er klettert auf eine Signalbrücke, springt von dort aus auf den fahrenden Zug, pirscht sich bäuchlings über die Waggondächer an seinen Kontrahenten heran, um ihn mit seinem Colt aus dem Weg zu räumen – ein nervenkitzelnder Showdown in bester Westerntradition.

„Der Todeszug“ ist ein gerade einmal 15-minütiger Schwarz-Weiß-Stummfilm, der in Nebraskas Prärie spielt, tatsächlich aber 1912 in der südfranzösischen Camargue gedreht wurde. Lange vor den Spaghettiwestern entstehen hier die populären Camembertwestern. Von 1907 bis 1914 dienen die meerumspülten Lagunen der Camargue, ihre Salinen, Dünen und Reisfelder als Kulisse für Dutzende Westernstummfilme. Sie tragen Titel wie „Arizona Bill“, „Die Prärie in Flammen“, „Hundert Dollar – tot oder lebendig“ oder „Die Roten Teufel“. Verfolgungsjagden, Hinterhalte, Reitakrobatik, Stampeden, Revolverduelle und Postkutschenüberfälle fehlen in keinem der Plots, die jeweils auf ein Notizblatt passen.

Die geschickten gardians, wie die berittenen Pferde- und Rinderhirten der Camargue heißen, verkleiden sich mit Stetson-Hüten, ledernen Beinkleidern und Fransenwesten als Cowboys. Andere Einheimische machen ein Casting im Dorfbistro mit, setzen sich einen Kopfschmuck aus Adlerfedern auf und ersetzen ihre Sandalen durch Mokassins, um wie authentische Apachen oder Sioux auszusehen. Es ist nicht selten, dass in einem Film die gleichen Statisten sowohl als Cowboys als auch als Indianer zu sehen sind.

Die schwarzen Stiere sind mit ihrer mächtigen Statur und ihren kräftigen Hörnern stellvertretend für die amerikanischen Bisons. Zwischen reetgedeckten Hirtenhütten werden Wigwams, Totems und Lagerfeuerstellen aufgebaut. Schafställe sollen wie Trapper- und Holzfällerblockhäuser aussehen. Auf Details wird nicht genau geachtet. Anstatt der Aasgeier stelzen rosa Flamingos durchs Bild. Und es sind keine Kakteen und vom Wind über die Straße gewehte kugelige Tumbleweed-Büsche, sondern Meeresspargel, Lavendel und Oleander, die die Westernvegetation simulieren. Doch mit ein wenig Fantasie erscheint das Rhônedelta tatsächlich wie eine europäische Kopie der kargen, flachen Plains von Texas oder Wyoming.

Drehbuchautor, Regisseur, Hauptdarsteller und Kaskadeur der meisten der haarsträubenden Action-Movies ist Joe Hamman, der „König des französischen Westerns“. Hamman, 1883 in Paris geboren, hat eine Ausbildung als Kunstzeichner absolviert. Während einer Reise nach Montana, wo er ausgewanderte Familienmitglieder besucht, sympathisiert er mit Cowboys und Indianern. Er ist von deren Kultur und Traditionen fasziniert, lässt sich auf einer Ranch Rodeoreiten und Lassowerfen beibringen und erlernt die indianische Sprache.

Zurück in Frankreich, wird er wegen seiner Reit- und Schießkünste als rough rider von Buffalo Bills Wildwestschau angeheuert, die mit 800 Akteuren, 500 Pferden und Dutzenden Bisons auf Europatournee ist. Buffalo Bill, bürgerlich William Frederick Cody, hat als Pony-Express-Reiter, Armeescout, gnadenloser Büffeltöter und Aufschneider weltweiten Ruhm erlangt. Seine „Wild West Show“, in der sogar sein einstiger Gegner, der Siouxhäuptling Sitting Bull, als Gaststar auftritt, entflammt die Massen. Weit mehr als 10 000 Zuschauer wohnen jeder einzelnen der in riesigen Zirkuszelten abgehaltenen Aufführungen bei.

Als Buffalo Bills Schauspiel 1905 in Paris gastiert, sitzt im Publikum Folco de Baroncelli, ein von Pferde- und Stierzucht begeisterter adliger Gutsbesitzer aus der Camargue. Der künstlerisch veranlagte Marquis, Freund des provenzalischen Dichters Frédéric Mistral, ist ein großer Verfechter und Förderer der okzitanischen Kultur. In den 1920ern wird er sogar Künstler und Schmiede mit der Gestaltung des Camarguekreuzes beauftragen. Das Wahrzeichen zeigt den Dreizackspieß der gardians, einen Anker der Fischer und ein Herz, das die heiligen Marien von Saintes-Maries-de-la-Mer symbolisiert.

Die Camargue ist damals eine raue, unwirtliche und wegen ihrer stechmückenverseuchten Sümpfe von Besuchern gemiedene Region. De Baroncelli will seine verschmähte Heimat werbewirksam aufwerten. Buffalo Bills klischeehafte Revolverhelden- und Indianer-Tamtam-Inszenierungen bringen ihn auf die verwegene Idee, in der Camargue Western zu drehen. Romantik, Exotik und Mythen des „Far West“ werden kurzerhand ins Schwemmland der Provence verpflanzt.


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mare No. 139

mare No. 139April / Mai 2020

Von Rob Kieffer

Rob Kieffer, Jahrgang 1957 und in Luxemburg lebend, schreibt hauptsächlich Reisereportagen, seit 25 Jahren regelmäßig für die FAZ. Sein letzter mare-Beitrag in No. 117 spielt ebenfalls in der Filmwelt. Er handelt von dem 1917 entstandenen Zeichentrickfilm über den Untergang der „Lusitania“.

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Vita Rob Kieffer, Jahrgang 1957 und in Luxemburg lebend, schreibt hauptsächlich Reisereportagen, seit 25 Jahren regelmäßig für die FAZ. Sein letzter mare-Beitrag in No. 117 spielt ebenfalls in der Filmwelt. Er handelt von dem 1917 entstandenen Zeichentrickfilm über den Untergang der „Lusitania“.
Person Von Rob Kieffer
Vita Rob Kieffer, Jahrgang 1957 und in Luxemburg lebend, schreibt hauptsächlich Reisereportagen, seit 25 Jahren regelmäßig für die FAZ. Sein letzter mare-Beitrag in No. 117 spielt ebenfalls in der Filmwelt. Er handelt von dem 1917 entstandenen Zeichentrickfilm über den Untergang der „Lusitania“.
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