Her mit dem Kies!

Die Nordsee birgt einen Schatz, auf den das ganze Land baut: Sand. Die Bauindustrie steckt ihre Claims ab

In Manfred Zeilers Büro hängt Sand an der Wand. Eingefasst im Holzrahmen: ein Querschnitt vom Meeresboden aus 30 Meter Wassertiefe nordwestlich von Helgoland. Für Liebhaber röhrender Hirsche am Bergsee mag der Zimmerschmuck öde aussehen. Für Geologen wie Zeiler, zumal wenn sie beim Hamburger Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) arbeiten, ist er ein Schatz, über dessen Schichten der Kenner liebevoll mit dem Finger fährt. Obenauf 80 Zentimeter Feinsand mit wenigen Muscheln, aber dann: ein 20 Zentimeter starkes, kompaktes Sedimentpaket aus Muscheln, Kies, kleinen Steinen und Sand. „Das ist Kiessand“, sagt Zeiler, „kommerziell interessant als Grundstoff für Beton. Steht sehr bodennah an, kann in der Nordsee sogar an der Oberfläche gefunden werden.“

Das hat auch die Baustoffindustrie gelernt, seit die Kiesgruben an Land immer leerer, die Rohstoffanteile immer minderwertiger und die Umweltauflagen für neue Gruben immer teurer geworden sind. In Schleswig-Holstein reichen die Reserven nur noch für ein gutes Jahrzehnt. Jetzt wird die Branche, die jährlich 330 Millionen Tonnen Sand und Kies braucht, in der Nordsee „kieshöffig“ – das kommt von „Hoffnung“ – und steckt in großem Stil Claims für Abbaugebiete ab. Sand (für Bürokraten alles zwischen 0,063 und zwei Millimeter Durchmesser) und Kies (zwei bis 63 Millimeter) aus der Deutschen Bucht sind lange ignorierte Bodenschätze mit Vielzweckeignung. Der feinere Sand dient als Wellenbrecher zum Schutz der Küste von Sylt ebenso wie zum Auffüllen des vom Airbus-Konsortium beanspruchten Mühlenberger Lochs, aber auch zur Landgewinnung für das Containerterminal in Bremerhaven. Doch das eigentliche Gold der Zukunft ist grobkörniger: Kies. Das hat man schon einmal gewusst, bevor es wegen der scheinbar grenzenlosen Reserven an Land vorübergehend wieder vergessen wurde: Im Beton der Unterkünfte und Anlagen für die Segelolympioniken bei den Sommerspielen 1972 in Kiel steckt Kies vom Meeresgrund.

Jeder Schatz hat seinen Preis. Der für Nordseekies liegt bei rund 2,90 Euro pro Tonne – laut Rohstoffwert, den das Oberbergamt Clausthal-Zellerfeld als Genehmigungsbehörde für den Nordseeabbau zu Grunde legt. Maximal ein Zehntel davon darf der Staat als Förderzins von den Betrieben kassieren, die mit „Trailing Suction Hopper Dredgers“ – Laderaumsaugbaggern – die Offshore-Kiesfelder beweiden wollen. Die Kosten für Gewinnung und Aufbereitung liegen allerdings eher bei gut sechs Euro, der Preis beim Verkauf an die Baustoffindustrie ist noch einen Euro höher. Das Verlockende ist die Gewinnung in großem Maßstab mit Schiffen, die 10000 Tonnen tragen können, denn das senkt die Stückkosten. Weil es – im Vergleich zur Kiesgewinnung an Land – die Fahrten von 350 Lastwagen spart.

Kein Wunder, dass die Industrie seit einigen Jahren auf den Nordseekarten Flächen absteckt, auf denen sie sich besonders reiche Sand- und Kiesvorkommen verspricht. BSH-Geologe Zeiler lässt auf seinem Monitor den „Entenschnabel“ erscheinen – Expertenjargon für die eigentümlich zugeschnittene Grenzlinie der Alleinigen Wirtschaftszone Deutschlands in der Nordsee. Darin summieren sich fünf schraffierte Antragsflächen für Sand- und Kiesabbau auf 1600 Quadratkilometer – mehr als die doppelte Größe der Stadt Hamburg. Dazu kommen noch rund 30 Quadratkilometer Sandgewinnung in der küstennahen Zwölf-Seemeilen-Zone. Erstmals wurde im Oktober ein Nordseekiesabbau genehmigt: Auf dem Feld „Weiße Bank“ westlich von Sylt, mit 120 Quadratkilometern deutlich größer als die Insel selbst, dürfen die Schwimmbagger der OAM-Deme Mineralien GmbH aus Großhansdorf bei Hamburg nun 40 Jahre lang ihre Saugrüssel zu Wasser lassen.

Was Fischer und Naturschützer gar nicht freut. Sie sehen durch derlei Vorhaben Nahrungsgründe bedroht, Laichplätze gefährdet, Schweinswale und Robben vom Lärm vertrieben. „Die Behörden hinken immer den Fakten hinterher, die da draußen geschaffen werden“, klagt Lothar Koch von der Schutzstation Wattenmeer. Denn die Alleinige Wirtschaftszone müsste man, bestünde sie nicht aus Wasser, als juristisches Neuland bezeichnen. Eine einheitliche Raumordnung gibt es noch nicht, auf Zeilers Computerkarten überlagern sich Schicht für Schicht die Nutzungsansprüche von Gas- und Ölbohrern, Pipeline- und Seekabelbetreibern, Windparkbauern, Bundesmarine und Luftwaffe, Fischern und Naturschützern – und nun auch noch Sand- und Kiesbaggerfirmen.

Den Kiessaugern winkt, falls ihre Rüssel einen ganz bestimmten Feinsand mit an Bord bringen, noch ein hübsches kleines Zusatzgeschäft: Golfplatzbetreiber zahlen bis zu 50 Euro die Tonne für den Bunkerbau.

mare No. 36

No. 36Februar / März 2003

Von Oliver Driesen

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