Heilsamer Schock im Eis

Baden in extremer Kälte hilft gegen Stress und Nervosität

Du darfst dabei nicht denken! Du musst es einfach tun. Und schnell. Dann ist es nicht ganz so schlimm“, rät Maarit Castrén. Nett gemeint. Aber ich höre nur das letzte Wort: schlimm.

Der Horizont im Westen Helsinkis ist tiefgefroren. Das Meer liegt unter einer Decke aus Eis, die Bäume am Ufer versinken im Schnee. Ein böiger Wind kommt aus Sibirien und pustet die Rauchfahne vom Kohlekraftwerk in einem dunklen linealgeraden Strich über das Meer. Die Luft ist minus fünf Grad kalt, und ich habe nur eine Badehose an. Die Holztreppe vor meinen nackten Füßen führt zu einem Loch im Eis. „Avanto“ nennen die Finnen ihr Winterbad. Das klingt schön. Beruhigend sogar. Avanto! Kurz und schmerzlos!

Maarit schiebt sich an mir vorbei, steigt zügig die Stufen herunter, bis ihr das Wasser bis zum Bauch reicht. Dann drückt sie sich kräftig ab und gleitet lässig hinüber zum Rand des kreisrunden Lochs in der Seurasaari-Bucht. Die Eisdecke ist 15 Zentimeter dick, die Wassertemperatur beträgt etwa minus 0,3 Grad. Mal sehen, was meine Füße dazu sagen.

Hmm. Geht eigentlich.

An den Waden und Knien fühlt es sich auch nicht übel an. Noch eine Stufe, und ich ahne, warum mich die Kälte nicht stört. Ich spüre meine Beine nämlich gar nicht mehr. Aber jetzt kann ich auch nicht mehr zurück. Nicht denken, einfach machen. Ich hole noch einmal tief Luft und riskiere einen großen Schritt vorwärts.

HHHHhhhhhhhhhh! Luft! Habe ich nicht eben Luft geholt? Mehr Luft! Meine Lunge steckt in einem Schraubstock und wird fürchterlich gequetscht. Sonst fühle ich überhaupt nichts mehr. Doch. Arme und Beine sind irre steif. Wo ist die Treppe? Ein kräftiger Schwimmzug, ein Griff nach dem Geländer und raus, alles in einer Bewegung. Eine Zehntelsekunde länger hätte ich das nicht ausgehalten.

„Reine Gewöhnungssache“, meint Maarit danach beim Auftauen in der Sauna. Sie ist Notärztin und kommt drei bis vier Mal in der Woche zum Eisschwimmen ans Meer. Am liebsten vor dem Bereitschaftsdienst. „Ich habe alle möglichen Sportarten ausprobiert. Joggen, Langlauf, Volleyball. Aber danach war ich immer müde. Wenn ich im Eiswasser war, bin ich hellwach und halte die Marathon-Schichten im Dienst viel besser aus“, findet die Ärztin.

Hellwach! Kein Wunder nach dieser Schocktherapie. Wie ist sie bloß auf dieses extreme Hobby gekommen? Maarit zeigt auf die drei älteren Damen vor uns und den älteren Herrn zur Rechten, der mit einer großen Schöpfkelle Wasser auf den Saunaofen gießt, bis jeder Atemzug in der Nase brennt wie Pfeffer. „Ich glaube nicht, dass diese Leute ihren Sport extrem nennen würden. Avanto-Schwimmen ist in Finnland Volkssport“, entgegnet meine Gastgeberin. „Wie sieht’s aus – bereit für die nächste Abkühlung?“

Juhani Smolander ist Physiologe und wollte eigentlich mit uns ins Wasser, aber er hat sich eine Erkältung eingefangen. „Trotz regelmäßigen Eisschwimmens“, schnieft er und kommt damit gleich zum Thema: Ist Winterbaden gesund? Härtet es ab? Seine Doktorarbeit hat er über Hitzestress geschrieben. Jetzt forscht er, wie der Mensch Kälte verträgt. Er hat Hochseefischer untersucht und Forstarbeiter, Teilnehmer einer Antarktisexpedition und Schlachter, die mit gefrorenem Fleisch arbeiten. „Diese Leute können auch in ihrer eisigen Umgebung noch mit bloßen Händen arbeiten. Warum halten sie die Kälte besser aus als wir?“, skizziert Juhani seinen Arbeitsauftrag.

Wenn der Körper extremer Kälte ausgesetzt wird, lösen Rezeptoren in der Haut über das vegetative Nervensystem eine Reihe lebenswichtiger Reflexe aus. „Die Blutgefäße verengen sich, die Viskosität des Blutes wird erhöht und die Atemfrequenz gesteigert“, erklärt der Physiologe. Weil der Körper über den Blutkreislauf Wärme nach außen abgibt, schaltet er an der Peripherie auf Sparbetrieb und versorgt primär die inneren Organe. Der Stoffwechsel wird angekurbelt, um mehr Energie bereitzustellen. Vorübergehend gelingt es dem Körper sogar, die Temperatur zu erhöhen. Eisschwimmer lieben diesen Moment – wenn ihnen im Wasser nach zwei Minuten plötzlich richtig warm wird.

Wie sich Kälte langfristig auf den Organismus auswirkt, ist bisher kaum erforscht: „Wir wissen, dass der Körper mit einer stärkeren Verengung der Blutgefäße reagiert und das braune Fettgewebe aktiviert“, berichtet Juhani. Braunes Fett? „Umschließt Herz und die großen Blutgefäße und gibt Energie direkt als Wärme ab. Bei Neugeborenen ist dieser Wärmespeicher gut entwickelt, aber er bildet sich zurück, wenn er nicht gebraucht wird.“ Allerdings sind diese physiologischen Effekte geringer, als die Mediziner ursprünglich vermutet haben. „Ein Arzt der US-Navy hat eine Gruppe von Marines einen Monat lang jeden Tag eine Stunde in zehn Grad kaltem Wasser schwimmen lassen“, erinnert sich Juhani. „Er hat regelmäßig alle wichtigen Parameter untersucht – und keine bedeutenden Veränderungen gefunden.“


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mare No. 19

No. 19April / Mai 2000

Von Olaf Kanter

Olaf Kanter, Jahrgang 1962, ist mare-Redakteur für Wirtschaft und Politik. Zuletzt schrieb er in Heft 17 über die legendäre Hafenstadt Schanghai

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Vita Olaf Kanter, Jahrgang 1962, ist mare-Redakteur für Wirtschaft und Politik. Zuletzt schrieb er in Heft 17 über die legendäre Hafenstadt Schanghai
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