Heiliges Geleit

Auf den „Rattenlinien“ in sichere Länder – Hunderte Nazi-Größen setzten sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Übersee ab. Ihre Fluchthelfer waren Geistliche aus dem Vatikan

Der große, braune Aktenschrank im Erdgeschoss des Palazzo Cesi in Rom stand mit der Tür zur Wand. In den 1960er Jahren hatte ihn jemand hierherräumen lassen, danach hatte man ihn vergessen, vielleicht auch vergessen wollen. Er war gefüllt mit vergilbten Akten, sein großes Geheimnis sah man ihm nicht an. Bis Mitte 1994. Da schob man ihn von der Wand weg und las die Papiere. Seither ist er „der Schrank der Schande“.

In seinem Inneren lagen Akten der Alliierten. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sie ihre Ermittlungen zu Massakern der Deutschen in Italien festgehalten: Zeugenaussagen zu Erschießungen, Namen von SS-Größen, Schilderungen von Massenexekutionen. Es sind Verbrechen, die nie gesühnt wurden, begangen von Verbrechern, die in Übersee oft noch jahrzehntelang ein ruhiges Leben führten. Fast alle sind inzwischen tot, aber Fragen bleiben: Warum wurden diese Fälle nie verfolgt? Wie konnten Hunderte von NS-Tätern fliehen? Und: Wer half ihnen dabei?

Italien, 1948. Die alliierte Militärregierung ist abgezogen, der italienische König im Exil. Es gibt im Land kaum funktionierende Autoritäten. Noch dazu wird Italien von Tausenden Flüchtlingen aus ganz Europa überrannt: Kinder und Greise, Vertriebene und Deserteure, Zwangsarbeiter und Verschleppte, Soldaten und Zivilisten. Für die meisten ist es die Hölle. Doch für all jene, die untertauchen möchten in der Masse, ist das Chaos perfekt: SS-Angehörige, Kriegsverbrecher, KZ-Kommandanten, Kollaborateure. Um einer Bestrafung zu entgehen, wollen sie nach Übersee fliehen. Unter ihnen ist ein Mann namens Erich Priebke, er ist Mitte dreißig, SS-Hauptsturmführer, Kriegsverbrecher. Und ein Beispiel dafür, wie die Flucht der Nazis über Italien funktionierte.

Dabei sieht es für Priebke erst gar nicht gut aus. Die Alliierten hatten ihn nach dem Krieg verhaftet und in ein Gefangenenlager in Rimini geschafft. Aber am 31. Dezember 1946 haben sich die Wachen auf ihrer Silvesterparty dermaßen betrunken, dass Priebke unbemerkt die Stacheldrähte durchschneiden kann. Als er draußen ist, irrt er nicht lang umher. Priebke weiß längst, wo man eifrige Fluchthelfer finden kann: Er rennt direkt zur Kirche.

Warum glaubte ein flammender Nazi wie Priebke, bei katholischen Geistlichen Unterschlupf zu finden? Der Totalitätsanspruch der NS-Ideologie hatte religiösen Weltanschauungen keinen Platz gelassen. Die Kirche, der Vatikan, galt als Feind, nach der Machtübernahme in Rom plante Hitler, Papst Pius XII. gefangen zu nehmen. Der Papst hatte zwar gegen die Nazis keinen direkten Konfrontationskurs gefahren. Soweit bekannt, schwieg er zu den Nürnberger Rassegesetzen und zu den Novemberpogromen, seine Worte zum Holocaust klangen verklausuliert, er sprach nicht offen aus, wer Opfer und wer Täter war. Seine Zurückhaltung lag wohl nicht an einer heimlichen Sympathie für Hitler. Pius fürchtete, dass öffentlicher Widerstand den Diktator anstacheln würde. „Wir müssten feurige Proteste dagegen erheben“, schrieb er, als die Deutschen ins katholische Polen einmarschierten. „Das Einzige, was Uns davon abhält, ist das Wissen, dass Unser Sprechen den Zustand dieser Unglücklichen nur noch verschlimmern würde.“

Doch Erich Priebke weiß, dass längst nicht alle Kirchenmänner die Haltung des Papstes zu den Nationalsozialisten teilen. Ein Bischof jedenfalls nimmt ihn sofort auf, lässt ihn in seinem Amtssitz wohnen. Derweil arbeitet ein früherer Untergebener Priebkes, Karl Hass, Fluchtwege für ehemalige SS-Offiziere aus. Den Auftrag hat er von katholischen Geistlichen bekommen. Sie nennen die Wege „Klosterrouten“. Priester, Mönche und Bischöfe bringen die Flüchtenden von Kloster zu Kloster, helfen mit Geld aus, mit Kontakten und Ratschlägen. Manchem Flüchtling geben sie sogar Priestergewänder mit zur Tarnung.

Dass manche, denen sie helfen, Massenmörder sind, stört die Kirchenmänner offenbar nicht. Einige von ihnen sind Antisemiten. Andere fühlen sich durch das Gebot der Nächstenliebe verpflichtet, den Verfolgten zu helfen. Viele unterstützen die Nazis, weil sie den gottlosen Kommunismus noch mehr fürchten als den Faschismus. Und überzeugte Antikommunisten sind die Nazis in jedem Fall. Ganz ohne Gegenleistung gibt es die Schleuserdienste trotzdem nicht. Die Priester stellen eine Bedingung: Geholfen wird nur Katholiken. Priebke ist Protestant, viele andere SS-Männer sind aus der katholischen Kirche ausgetreten. Nur eine erneute Taufe, so denken die Kirchenmänner, kann die SS-Leute von der „Ketzerei des Nationalsozialismus“ befreien. Doch Wiedertaufe ist kirchenrechtlich verboten. Eine simple Logik hilft aus der Misere: Wer Nazi ist, der kann nicht ordentlich getauft worden sein. Auch Papst Pius stellt sich hinter die Wiedertaufe. „Diese Seelenernte“, sagt er, „ist jedes Opfer wert.“


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mare No. 95

No. 95Dezember 2012 / Januar 2013

Von Nicole Basel

Nicole Basel, Jahrgang 1980, war Redakteurin der Financial Times Deutschland und Korrespondentin in Kopenhagen, heute arbeitet sie als Autorin in Hamburg.

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Vita Nicole Basel, Jahrgang 1980, war Redakteurin der Financial Times Deutschland und Korrespondentin in Kopenhagen, heute arbeitet sie als Autorin in Hamburg.
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Vita Nicole Basel, Jahrgang 1980, war Redakteurin der Financial Times Deutschland und Korrespondentin in Kopenhagen, heute arbeitet sie als Autorin in Hamburg.
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