Hei kummt Klaasohm!

Auf Borkum blüht im Verborgenen der alte Vorweihnachtsbrauch des Klaasohms – ein Nikolaus, wie ihn die Welt nicht kennt

Im lichten Dünengras lässt Klaasohm das Meer hinter sich. Ein Jahr lang war er den Grund am Schelf entlanggewandert, hatte Ruhe gesucht in den versunkenen Gehöften. Nun aber ist sein Tag. Er hievt sich aus dem Sandboden, schüttelt seinen gefiederten Kopf, sticht seine ellenlangen Hörner ins Nachmittagsgrau. Westwind kommt überm Großen Kaap auf. Der Klinker des Seezeichens funkelt rot, als Klaasohm eine Unrast packt. Zorn. Dann läuft er los.
Diese Legende erzählen die Borkumer ihren Kindern jedes Jahr, wenn es auf Nikolaus zugeht – wie sie ihn, ihren Klaasohm, am Großen Kaap ausgraben und er über die Insel hereinbricht.

Kaum einen Mann hält es dann, sie drängen am Spätnachmittag zum Schuppen der Inselbahn. Die Jungen in Vierergruppen, mit Kornschnaps in den Taschen ihrer Daunenjacken; die Alten mit dem Taxi bis zur Tür, und dann gestützt von ihren Enkeln hinein. „Hey, hey, hey, der Ohm ist los!“, schallt es übers Pflaster.

„Manni, lass gut sein“, sagt ein hagerer Mittvierziger am Eingang zum Lokschuppen. Zu viert haben sich die Wächter hier postiert; nur auf der Insel geborene Männer haben heute Zutritt. Manni ist „Europäer“, wie sie auf Borkum sagen, ein Zugezogener. Ein Flachmann kreist, eine letzte Umarmung, dann schließt die Tür, und Manni steht allein – während drinnen der Kampf der Klaasohme beginnt.

 

 

Auf dem nordwestlichsten Flecken Deutschlands feiert man einen Brauch, den es nur hier gibt. Wenn anderswo Kinder am 5. Dezember ihre Stiefel für den Nikolaus vor die Tür stellen, ziehen sechs Borkumer ihre eigenen an; ein alter Jungmännerbund ernennt sie hierzu jedes Jahr neu. Die sechs verwandeln sich in Klaasohme.

Ein bisschen Nikolaus, viel Ruprecht, Odin und Dämon. Erst heute Mittag hatte Oldermann Henrik Poppinga den sechsen seinen Entschluss mitgeteilt, jeden am Handy gefragt: „Hast du Stiefel?“ Der Präsident des Vereins Borkumer Jungens e.V. hatte sie dann kommen lassen – zwei Erwachsene, zwei 16-Jährige und zwei 14-Jährige. Die Voraussetzungen: männlich, ledig, sportlich.

Nahezu jeder geborene Borkumer ist Mitglied im Verein, ab 16 Jahren bis zur Heirat. Die Kämpfe drinnen in der Kleinbahnhalle sind streng geheim, Fotos und Filmaufnahmen verboten. Niemand wird später darüber sprechen. Rituale, die seit Generationen überdauert haben, womöglich eine Mischung aus Judo und Sumo. Deren Sinn man sich vielleicht auch nicht mehr erklären kann, außer dass sie bis heute überdauert haben. Als das große Haupttor eine Stunde später schließlich hochgezogen wird, haben die Klaasohme ihre interne Hierarchie durch Muskelkraft besiegelt: Sollte ein jüngerer den älteren bezwungen haben, müsste jener schmachvoll ausgetauscht werden. Ordnung ist wichtig bei diesem Fest.

Doch dieses Jahr ging es gut: Henrik Poppinga, ein drahtiger junger Erwachsener mit stets misstrauischem Blick, rennt hinaus. Er schüttelt laut eine Handglocke, hinter ihm die Klaasohme mit ihren tonnenförmigen, einen halben Meter hohen Masken. 300 Leute haben sich auf dem Platz vorm Schuppen versammelt, sie begrüßen die Klaasohme mit Kuhhornfanfaren und Schellen, es klingt grell und dumpf zugleich. Langsam, zuerst trottend, setzen sich die Maskenmänner in Bewegung. Viel sehen sie durch die Schlitze nicht, Jungens vom Verein, die Biloper, führen sie. Dann verfallen sie in einen Dauerlauf quer durch die Stadt.

Eigentlich ist der Klaasohmumzug schnell erzählt. Es gibt weder Reden noch Lieder, nur ein paar Verkleidete. Und sie trennen sich schnell. Begegnen dürfen sich die Paare der großen, mittleren und kleinen Klaasohme nicht, sonst setzt es Prügel; die Ordnung schreibt vor, dass die Jungen den Alten stets zu weichen haben.
Den großen Maskenmännern rennt „Wiefke“ voran, ein Mann in Frauenkostüm mit einer eng anliegenden Maske, halb Hund, halb Wildschwein. Rund zwei Stunden Lauf, dann löst sich der Spuk auf.

Die beiden großen Klaasohme rennen in die Westerstraße, hinein in die Nummer 11, ins Wohnzimmer. „Klaasohm! Klaasohm!“, schreit die Familie des Hauses und mit ihr ein Dutzend Gäste; sie ballen die Fäuste und springen im Viervierteltakt, beben, als zuckte über ihnen ein Diskolicht. Drei Minuten bleiben die Klaasohme und Wiefke im Haus, tanzen und grölen und jagen wieder hinaus.

Klaasohm kehrt dort ein, wer beim Verein seine Adresse hinterließ. Jedes Jahr aber sind es mehr Häuser, als er anlaufen kann. Und die Borkumer selbst halten heute Abend nicht still, sammeln sich zu Kleingruppen und besuchen Freunde da- heim, drehen eine Runde. Die einen laden ein, die anderen schauen vorbei, Privatsphäre gibt es heute nicht. Klaasohm ist überall und nirgends zugleich.

Der Legende nach entstand der Brauch im 18. Jahrhundert, in der Hochphase der Walfangzeit. Viele Männer Borkums heuerten auf den Schiffen aus Amsterdam an, den Sommer verbrachten sie auf dem Nordmeer, bis sie Ende Herbst dem Eis wichen und ihren Lohn zurück auf die Insel brachten. Da in den Monaten zuvor Frauen das Regiment auf Borkum geführt hatten, sollen die Männer das Klaasohmfest begründet haben, um die Insel wieder formell in Besitz zu nehmen und die Ordnung wiederherzustellen. Denn Klaasohm schlägt zu.

„Ich hab eine!“ Wiefke hält eine 16-Jährige fest. Sie will sich entwinden, Wiefke und ein angerannter Biloper greifen immer wieder nach ihren Armen. „Lasst mich, bitte, bitte!“, fleht sie. Da kommt Klaasohm, in seinen Händen ein Kuhhorn. Er holt aus, rasch drückt der Biloper ihren Kopf nach vorn. Ein-, zwei-, drei-, viermal saust das Horn auf den Hintern nieder. Beim dritten Mal schreit sie kurz, die Knie werden weich. Als der erste Klaasohm ablässt, wiederholt ein zweiter das Ritual. Und steckt ihr am Ende, als sie ihn stumm anstarrt, einen Lebkuchen in den Mund; die größte Demütigung dieses Aktes.

Früher schlossen sich die Frauen ein; auf den Straßen durften sie sich in der Klaasohmnacht nicht blicken lassen. Und hofften, dass nicht jemand aus der Familie heimlich Klaasohm ins Haus ließ. Oder dass Wiefke nicht über ein Fenster eindrang. Bis in die 1990er waren die Hörner mit Sand gefüllt. Noch heute hinterlassen die Schläge rote Male. Kinder unter 14, verheiratete Mütter und Ältere umarmt Klaasohm brav, verteilt „Moppe“, eine Art Honigkuchen, ist ganz Nikolaus. Zu den jungen Frauen aber ist er Knecht Ruprecht.

Bei Klaasohm geht es auch um Sex. Der Verein Borkumer Jungens ist eine Art Inselloge, ein Bund der Jungmänner, und zu Klaasohm demonstrieren sie, dass die Mädchen der Insel nur mit Jungs der Insel gehen sollen; geschlagen wird nur, wen man kennt, Touristinnen bleiben verschont – als wollte man die Grenzen der Insel vergegenwärtigen, die innere Gemeinschaft stärken.

„G Wester“ tippt ein Mädchen ins Handy: Die großen Klaasohme sind gerade in der Westerstraße. Ihre SMS geht an sechs Freundinnen zugleich raus. Natalie, 15, zieht ihre Pudelmütze nach hinten, betastet die Zeitungspolsterung am Po. „Sie kommen!“ Langsam ziehen sich Natalie, Frauke und Jasmin in den Alten Damenpfad zurück, ducken sich hinter eine Hecke. „Das ist Spaß, Mann“, flüstert Natalie. „Die Jungs wollen uns verarschen? Wir verarschen sie!“

Längst gehören die Straßen in der Klaasohmnacht nicht mehr dem Mann allein. In den vergangenen drei, vier Jahrzehnten haben die Inselfrauen ihre Rolle neu definiert. Sie trauen sich nicht nur in Jeans und Sportschuhen hinaus, sie foppen die Maskenmänner, bespotten die Biloper und rennen weg. „Das ist wie Räuber und Gendarm.“ Am Ende aber, wenn es eine erwischt, ist der Spaß vorbei. Dann gibt es nur die Hierarchie, die Ordnung, die Schläge. Und keine lacht danach. Natalie stockt. „Okay, das ist frauenfeindlich. Aber es gehört dazu. Das ist unser wichtigstes Fest, größer als Weihnachten.“

Warum hauen die Frauen nicht zurück? „Nicht unser Stil. So was machen nur Jungs.“ Es klingt gnädig. Sie zückt ihr Handy. Gefahr, liest sie, droht nun im Fauermanns Pad. „Es ist doch so“, sagt Natalie, „an den anderen Tagen im Jahr regieren wir. Lassen wir ihnen das Spiel.“

Gewalt gegen Frauen gehörte bis weit ins 19. Jahrhundert zu vielen Festen in Deutschland. Alemannische Fastnacht, Nürnberger Schembartlauf – Jungmännerbünde beanspruchten immer und überall das Maskenrecht, und wo verkleidete Männer mit Peitschen feierten, ging es stets gegen die Frauen. Eine Tradition, die viele wohl vergessen wollten. Die Volkskunde berichtet über diese Vergangenheit kaum, Gewalt bleibt der blinde Fleck ihrer Forschung.
Aber warum hielten die Borkumer als Einzige daran fest? Warum kennen sie noch kein Rauchverbot in ihren Kneipen? Und warum nähen die Rocker vom Motorradclub das Wappen Borkums auf ihre Kutten: „Mediis tranquillus in undis“, „Ruhig inmitten der Wogen“?

Eine Stunde lang laufen nun die großen Klaasohme, in elf Häusern waren sie. Zeit für eine Pause. In der Kneipe „Störtebeker“ stellen sie sich hinter den Tresen, zapfen Bier und verteilen es an die johlende Menge. Es drückt, die Luft steht. Mit Mühe schieben sich die Klaasohme über die Tische hinweg wieder hinaus.

Der Endpunkt naht. Deutlich langsamer stapfen sie, beide Hände an den Hüften, entlang eines Gartenzauns aus alten Walknochen, vorbei am Friedhof. Jemand zündet rotes bengalisches Feuer. Aus dem Rauch lugen Grabsteine mit eingemeißelten Totenköpfen hervor, und ein Gedenkstein des Vereins Borkumer Jungens. „Sturmnacht des 21./22. Septembers 1931“ flackert auf, und „Seemannstod im Haaksgatt beim Unglück des Motorboots Annamarie“. 15 Männer waren damals ertrunken, sie kamen von einem Turnfest auf der Insel Juist.

Jetzt pfeift der Wind. Schwarze Wolken treiben dichten Schnee herab, den ers- ten in diesem Winter. Im vergangenen Jahr zeigte die See am Tag des Klaasohms ihr düsteres Gesicht. 100 Kilometer vor Rotterdam kollidierte die Autofähre „Baltic Ace“ mit einem Containerschiff und sank, elf Männer starben. Auf dem Gedenkstein der Inselloge liegen kleine Steine, Muscheln und frische Mistelzweige – Zeichen des Respekts vor den Toten und dem Meer auf einer Insel, deren Bewohner vor ihm nie sicher waren. Und nun dämmert, warum Klaasohm ihnen so wichtig ist.

Als Borkum vor 5000 Jahren langsam aus dem Sand wuchs, aus Ablagerungen durch Strömungen, Wind und Flut, war dies für Menschen gefährlicher Grund. Inseln entstanden und zerfielen, bis ins 19. Jahrhundert hinein verschwanden ganze Ortschaften im Meer. Jeden Winter bedrohten Stürme Borkum. Seine Einwohner wussten nicht, wie hoch das Wasser stehen, wie viel Sand abgenagt würde. Die Insel war über Monate hinweg isoliert, für den Winter musste vorgesorgt werden, und wer nicht genügend Essen im Keller hatte, erhielt Hilfe aus der Solidarkasse der Insulaner. Das schweißte zusammen.

Der Ethnologe Thomas Hauschild von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hat herausgearbeitet, wie die Nikolausfeste überall im Lauf der Jahrhunderte ins Private rückten. Auf Borkum aber ist Klaasohm das Gegenteil davon, ein Ventil der Gemeinschaft für die Schrecken des Wintermeers. Ein Gespenst, dem die Insulaner einen Triumphzug entgegenstellten, um es zu bannen. Eines, mit dem sie sich jenen näher fühlten, die das Meer vorzeitig genommen hatte. Im Nikolaus Borkums vereinten sich diese Ängste mit den Erfahrungen, die jene Männer von den Walfangschiffen mitgebracht hatten: Bei ihren Reisen durchs Nordmeer mit internationaler Besatzung hatten sie von manchem alten Winterbrauch gehört. Die beim Klaasohmfest beschworene Inselgemeinschaft kannte letztlich nur einen Unterschied – den zwischen Mann und Frau. Und den lebt man bis heute aus.

Die Klaasohme sind jetzt platt. Mehrere Kilo wiegen ihre Masken. Wie trunken passieren sie das „Café zur Lokomotive“ am Georg-Schütte-Platz, bemerken nicht die im Dunkeln sitzenden Frauen, nicht die Mädchencliquen, die ihnen aus Steinwurfnähe zurufen. Jetzt geht es nur noch darum durchzuhalten, sich der Maske zu entledigen. Klaasohm wieder in die Unterwelt zurückzuschicken.


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mare No. 101

No. 101Dezember 2013 / Januar 2014

Von Jan Rübel und Edgar Herbst

Jan Rübel, Jahrgang 1970, lebt in Berlin und ist Partner der Reportageagentur Zeitenspiegel. Er verlebte seine Kindheit und Jugend im ostfriesischen Aurich. Schon damals lauschte er den wilden Geschichten über Klaasohm von der Insel. 30 Jahre später nun hat er ihn endlich kennengelernt.

Edgar Herbst, Jahrgang 1961, freier Fotograf in Berlin, wird das Fest für immer als die „Hölle der Nordsee“ in Erinnerung behalten.

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Vita Jan Rübel, Jahrgang 1970, lebt in Berlin und ist Partner der Reportageagentur Zeitenspiegel. Er verlebte seine Kindheit und Jugend im ostfriesischen Aurich. Schon damals lauschte er den wilden Geschichten über Klaasohm von der Insel. 30 Jahre später nun hat er ihn endlich kennengelernt.

Edgar Herbst, Jahrgang 1961, freier Fotograf in Berlin, wird das Fest für immer als die „Hölle der Nordsee“ in Erinnerung behalten.
Person Von Jan Rübel und Edgar Herbst
Vita Jan Rübel, Jahrgang 1970, lebt in Berlin und ist Partner der Reportageagentur Zeitenspiegel. Er verlebte seine Kindheit und Jugend im ostfriesischen Aurich. Schon damals lauschte er den wilden Geschichten über Klaasohm von der Insel. 30 Jahre später nun hat er ihn endlich kennengelernt.

Edgar Herbst, Jahrgang 1961, freier Fotograf in Berlin, wird das Fest für immer als die „Hölle der Nordsee“ in Erinnerung behalten.
Person Von Jan Rübel und Edgar Herbst