Hängepartie

Die Brücke über die Straße von Messina nach Sizilien wurde vom uralten Traum zum stolzen Megaprojekt und schließlich zur Schimäre

Es ist eine Meerenge am Ende der Welt. Dunkle Wolken, durchbrochen von einem matten Schein, ein tosendes, nachtblaues Meer, der Wind weht mit Stärke 6 ins Gesicht. Homer hat diesen Ort gewählt, um seinen Helden Odysseus das Fürchten zu lehren, ihn zwischen zwei Monster geworfen, die seine Odyssee bedrohen: das eine Charybdis, der furchterregende Wirbelsturm, das andere Scylla, das unersättliche mehrköpfige Biest, das in seiner Höhle lauert.

Aber eine andere monströse Kreatur ist ins Leben derer gedrungen, die heute hier, an der Meerenge, die Sizilien von Kalabrien trennt, leben: eine Schimäre mit einem Körper aus Stahl, die alle politischen Führer Italiens erst verzauberte und dann erschöpfte, die Milliarden Lire, später Millionen Euro verschlang und die brillantesten Ingenieure in den Wahnsinn trieb. Hier wird sie einfach „die Brücke“ genannt. „Die Brücke“, die nicht existiert.

Für den besten Blick muss man nach Torre Faro, im äußersten Nordosten Siziliens. Ein Anwohner, Nunzio Maggio, weist den Weg. Der alte Fischer müht sich auf seine Panoramaterrasse. „Schau, da ist sie. Gigantisch“, sagt er leise. Er mischt Fiktion mit Wirklichkeit. Mit seinen Armen zeichnet er in die Luft die Bögen der Goldenen Pforte, die in Süditaliens Nebeln fantasiert wird und sich über die Stelle erstreckt, wo das Ionische und das Tyrrhenische Meer aufeinandertreffen.

Weit unten liegen gespenstisch leere Villen und eine Hotelruine wie nach einer eiligen Evakuierung. Sie zeugen von dem einst erwarteten Wandel, der zur Enteignung Hunderter Familien führte; eine Jahrhundertbaustelle, die stillstand, noch ehe der erste Spatenstich erfolgte. Auf der anderen Seite der Meerenge, in Villa San Giovanni, schlängelt sich entlang dem Ufer ein melancholisches Strandbad mit Palmen und leeren Bänken, Lungomare Fata Morgana. Von dort aus scheint Siziliens Küste über dem Wasser zu schweben.

„Die Brücke“ – genauer: ihre Idee – hat eine uralte Geschichte. Konsul Lucius Caecilius Metellus, Sieger von Panormus 251 v. Chr., reihte zahllose Boote nebeneinander auf, um 142 von den Karthagern geraubte Kriegselefanten nach Rom zu schaffen. Der Plan einer festen Querung der Meerenge stand auf der Agenda sämtlicher Inselherrscher: Karl der Große, der Normanne Robert Guiskard, Ferdinand II. von Bourbon – aber keiner schaffte es, Sizilien mit dem Festland zu verbinden. „Die Querung war sogar das zentrale Projekt der Verwirklichung der italienischen Einheit im Jahr 1870. Damals stellte man sich einen Tunnel vor. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es zum ewigen Wahlversprechen, als Antwort auf die offene ,Südstaatenfrage‘“, sagt Soziologe Aurelio Angelini, Autor eines Buchs über den Mythos der Brücke.

Aus dem Französischen von Karl Spurzem

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mare No. 144

mare No. 144Februar / März 2021

Von Thomas Saintourens und Tommaso Bonaventura

Thomas Saintourens, Jahrgang 1983, ist Autor in Paris und schreibt Reportagen unter anderem für Le Monde und Geo. „Durch all die Energie und das Theater ist das imaginäre Denkmal zu einem Mythos geworden wie Scylla und Charybdis.“

Tommaso Bonaventura, geboren 1969 in Rom, studierte Kunstgeschichte und Bildende Kunst. Heute pendelt er als freier Fotograf zwischen Rom und seiner Wahlheimat Paris, wo er Fotografie auch lehrt. Zu seinen zahlreichen Auszeichnungen gehört auch ein World Press Photo Award.

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Vita Thomas Saintourens, Jahrgang 1983, ist Autor in Paris und schreibt Reportagen unter anderem für Le Monde und Geo. „Durch all die Energie und das Theater ist das imaginäre Denkmal zu einem Mythos geworden wie Scylla und Charybdis.“

Tommaso Bonaventura, geboren 1969 in Rom, studierte Kunstgeschichte und Bildende Kunst. Heute pendelt er als freier Fotograf zwischen Rom und seiner Wahlheimat Paris, wo er Fotografie auch lehrt. Zu seinen zahlreichen Auszeichnungen gehört auch ein World Press Photo Award.
Person Von Thomas Saintourens und Tommaso Bonaventura
Vita Thomas Saintourens, Jahrgang 1983, ist Autor in Paris und schreibt Reportagen unter anderem für Le Monde und Geo. „Durch all die Energie und das Theater ist das imaginäre Denkmal zu einem Mythos geworden wie Scylla und Charybdis.“

Tommaso Bonaventura, geboren 1969 in Rom, studierte Kunstgeschichte und Bildende Kunst. Heute pendelt er als freier Fotograf zwischen Rom und seiner Wahlheimat Paris, wo er Fotografie auch lehrt. Zu seinen zahlreichen Auszeichnungen gehört auch ein World Press Photo Award.
Person Von Thomas Saintourens und Tommaso Bonaventura