Hamburgs schrägster Ort

Eine Ode an die legendäre Oberhafenkantine

Das Haus liegt wie auf Riff gelaufen am Kanal unter der Bahnbrücke. Die Mauern sind zerrissen und die Wände schief wie’n Schipper sin Been. „Moin“, sagt Ingrid, wie sie es jeden Freitagmorgen kurz vor sechs sagt, und packt zehn Schollen auf die Theke, und Schorsch vom Ladeverkehr, der nach Schichtende Buddelbahnen baut, erzählt vom Grand ohne Vier von gestern abend. Das ist die Oberhafenkantine, der schrägste Ort von Hamburg.

Aber schräg nicht, weil die Leute hier Ringe im Bauchnabel haben. Oder Zebrastreifen als Frisur. Nein, das ganze Ding ist aus dem Ruder gelaufen. Das hängt so schief über Pflaster, daß der Kaffee in der Tasse über Bord geht. „Macht aber nix“, sagt Dieter der Rangierer, „da rutschen die Schläfer von alleine in die Ecke.“ Was auch wieder stimmt.

Hinter der Theke, unter dem Regal mit Baccardi, Gewürzketchup und Asbach, steht Günther, der den Tag in Corona-Zigarren mißt, und schmiert Mettwurstbrötchen. Günther ist 72 und in der Oberhafenkantine als junge Verstärkung angestellt, als Nachwuchskraft sozusagen, weil Anita, deren seliger Vater das Geschäft gegründet hat, langsam die Stunden in den Knochen spürt. Mit 82 Jahren auch kein Wunder. Deswegen geht Ingrid, die hier eigentlich nur Kundin ist, auch jeden Morgen zum Fischmarkt und holt Schollen.

„Sieht ja gut aus!“

„Die Schollen oder Ingrid?“

Schorsch nun wieder. Anita und Günther wechseln sich mit den Schichten ab. Diese Woche ist Günther morgens dran. Um drei hat ihn sein Kater in Billstedt geweckt, weil um fünf, wenn die Arbeiter vom Güterbahnhof Schichtwechsel haben, die Kantine geöffnet haben muß. Also hat Günther um halb fünf die Luken vor den Fenstern hochgehievt, hat aufgeschlossen, die erste Corona „Tropenschatz“ angemacht, Brötchen geschmiert und den Plastikrahmen am Speditions-Kalender einen Tag weitergefummelt. Wie jeden Morgen.

Fünf Meter über den paar Tischen der Kantine quietscht jetzt ein Morgenzug heran, und die Frühschicht muß los. „Tschüß Dieter, laß’ die Lok heil“, sagt Günther in das Rumpeln herein, feuert seine „Tropenschatz“ wieder an, macht die Brötchentüte für Michael fertig und meint, daß sich, so weit er denken kann, eigentlich nichts geändert hat an Anitas Restaurant. Nur daß es immer schiefer geworden ist.

Die Oberhafenkantine balanciert seit 1925 am Kanalufer, gegenüber vom Fruchthof. Zwei Jahre hatte Anitas Vater an ihr gebaut. Als der letzte Ziegel saß, war sie einen halben Meter länger als erlaubt und immer noch zu kurz, um einen ganzen Namen darauf zu schreiben: „Herm. Sparr“ kürzte er ab, und so ist es geblieben. Während ringsum einiges drunter und drüber ging, während Bomben fielen, Laderampen verschwanden und aus Gemüsehallen Kunsttempel wurden, blieb die Oberhafenkantine inmitten des Getümmels stehen. Wie gestrandet eben, mitsamt ihrer Besatzung von Bahnern und Lagerleuten, die schon immer an Bord waren und Anitas Frikadellen mit Senf und Astra aßen.

Damals in den Zwanzigern lagen Schuten im Oberhafen, die hatten Ziegel fürs Chilehaus geladen. Keiner weiß mehr so genau, wie das nun kam, auf alle Fälle ist Herm. Sparrs Kantine aus den gleichen bläulichglasierten Steinen gebaut wie das Chilehaus am anderen Ufer. Nur kleiner natürlich. Drei mal siebeneinhalb Meter, unten die Kombüse und oben der Raum, wo die Vorräte lagern. – „Bläulich? Blau ist keine Farbe, blau ist ein Zustand“ kräht einer, Schorsch wahrscheinlich, und der mit dem Zwiebelbart antwortet: „Mach’ noch mal ein’ rein.“

„Moin, Mariannchen“, sagt Günther, als Marianne, die dritte Wirtin an Bord, zur Halb-zehn-Uhr-Schicht erscheint, gebückt von siebzig Jahren durch die Tür wieselt, ab in den Oberraum, um ihren Kittel anzulegen. Und da kommt nun auch Anita, Kopf voran und spindeldürr an den Astra-Kästen vorbei, viel zu früh zur Spätschicht, die solange dauert, wie Gäste da sind; „Möönsch Günther, sieben Mark die Scholle? Wer soll denn das bezahlen?“, sagt Anita, aber Ingrid meint, das ginge schon klar, und so verschwindet die Chefin in die Kellerküche, um hundert Frikadellen zu kneten für das Fest morgen.

Die Oberhafenkantine ist einer von den Orten, wo man meist nicht Tschüß sagt, sondern „Bis später“. Wer hierher kommt, kennt sich, duzt sich und packt mit an. Sie ist einer von den Orten, ohne die das Wetter noch unerträglicher wäre. „Das ist ein Familienbetrieb, wo keiner mit dem anderen verwandt ist“, sagt Ingrid, und Michael von den Entwässerungsbetrieben hat neulich erst Badetücher gestiftet, die jetzt als Gardinen vor den Fenstern hängen. Über der Käseschneidemaschine steht das Sparschwein für den Kantinenausflug nach England mit der „Hamlet“.

Der mit dem Zwirbelbart ißt jetzt eine Frikadelle, für zwei Mark, auf Teller serviert und mit handgewaschener Gabel. Er sagt, er habe seine eigene Firma im Freihafen, mit Barkassen, Trucks und Schuten, und könnte mittags auch woanders hingehen: „Aber hier ist das nicht so kalt bis auf die Getränke. Ich weiß, daß bei Anita die Gläser sauber sind und daß ich nicht riskiere, auf Kunden zu treffen, nur Leute, die seit zwanzig, dreißig Jahren hier sind.“

Die Oberhafenkantine ist gut gealtert. Die Planken, die kunstledernen Sitzbänke mit den Huthaltern aus der Vorkriegszeit. Selbst das Resopal ist schon so abgeschubbert, daß es aussieht wie abgeschubberte Eiche. Weil sie wirklich schräg ist, weil die Bratkartoffeln schmecken und nur echtes Biskin in die Pfanne kommt, hat die Kantine Liebhaber auch außerhalb des Hafens. Art-Directoren und Fotografen feiern ihre Feste mit Anitas Frikadellen, und bis vor kurzem kamen jeden Abend auch zwei Mädchen, drehten die handgeschriebene Getränkekarte um und machten Kulturkneipendienst für die Schönen und Jungen dieser Stadt.

Das ist vorbei: „War schön. Wir heuern nämlich gerne jemanden, der eine Abendschicht macht und neue Leute mitbringt. Aber das war denen wohl dann doch zu viel Arbeit“, sagt Günther, weil: „Hier muß man auch mit dem Kopf unterm Arm zur Schicht kommen und man Hand in Hand arbeiten, sonst läuft überhaupt nichts.“

Und noch weniger würde laufen, wenn Anita nicht da wäre. Die Frau ist immer in Bewegung, jede Rechnung wird nachgerechnet und auf den Pfennig genau bezahlt, jeder Teller per Hand abgewaschen und jede Kartoffel eigenhändig geschält. So war das immer, und die Leute am Oberhafen wissen, daß morgens um fünf der Kaffee fertig ist, und es Brötchen gibt mit Käse oder Mett. Bei Frühschicht nimmt Anita die erste S-Bahn um 4 Uhr 28 ab Wellingsbüttel, und wenn sie Spätdienst hat und die letzten Gäste trotz Schieflage den Ausgang nicht finden, ist es manchmal zwei Uhr, bis sie in den Federn liegt.

Da bleibt keine Gicht an den Knochen hängen. Aber sie hat auch die Statur für so ein Leben. Wer schon immer in der Oberhafenkantine saß, also eigentlich jeder, weiß noch, wie Anita noch vor zwanzig Jahren den Handstand auf einem Kneipenstuhl machte. Handstand! Damals hing der Kahn aber auch noch nicht so schief. Das passierte erst, als die Brücke, früher mit 800 Zügen am Tag die meistbefahrene Brücke in Europa, angehoben werden mußte. Drei Firmen gingen an der Unternehmung pleite. Sie verhoben sich an dem schlickigen Untergrund, der die Holzpfeiler aus Wilhelms Zeiten nicht hergeben wollte.

Durch die Kantinenfenster hat Anita einen Gutteil von Hamburgs Geschichte gesehen. Das war wie ein Logenplatz. Sie weiß noch, wie die Gemüseschuten vom Alten Land anlegten, und wie die Vierländerinnen in Trachten herumliefen, wie die Droschken zur Milchrampe fuhren, um die Züge zu entladen: „Damals fuhr die Straßenbahn die Altländer Straße hoch Richtung Steintor und hatte frühmorgens einen Extrahänger dran für die Gemüseläden.“ Anita reichte Tag für Tag Mettwurstbrote durchs Kantinenfenster und knetete Frikadellen. Dann kam der Krieg. Die Bomben fielen immer knapp an der Kantine vorbei, nur die Butzenscheiben flogen heraus. Im Kantinenfenster erschienen Kriegsgefangene, die räumten Trümmer vom Hannoverschen Bahnhof, der hier noch stand. Anita schmierte Stullen. Und dann sah sie auch Menschen mit Koffern, die mit Brüllen und Bellen zusammengetrieben und dann zu den Güterzügen gebracht wurden. „Immer abgezählt in die Waggons rein, egal ob Mutter und Kinder zusammen waren.“ Schrecklich. Das fiel hier in der Ecke nicht so auf, anders als am Hauptbahnhof. Anita schmierte weiter Stullen, war aber von Hitler geheilt.


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mare No. 12

No. 12Februar / März 1999

Von Alexander Smoltczyk

Nachtrag: Diese Reportage erschien zuerst am 8. 7. 1996 in der Hamburger Morgenpost. Inzwischen steht die Oberhafenkantine leer und auf Abriß. Anita ist 1997 gestorben, Günther und Marianne sind in Rente gegangen.

Alexander Smoltczyk, 1958 in Berlin geboren, ist Reporter beim Spiegel. 1995 erhielt er den Kisch-Preis. Sein letztes Buch erschien 1996: Der Wald ohne Schatten. Reisereportagen, Ch. Links Verlag, Berlin 1996, 204 Seiten, 29,80 Mark. In mare No. 1 schrieb er über Austernessen in Paris.

Marcus Höhn, 1967 in Mainz geboren, studierte dort Freie Bildende Kunst. Seit 1996 lebt er als freier Fotograf in Hamburg und gehört der Agentur Signum an. Dies ist seine erste Arbeit für mare

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Vita Nachtrag: Diese Reportage erschien zuerst am 8. 7. 1996 in der Hamburger Morgenpost. Inzwischen steht die Oberhafenkantine leer und auf Abriß. Anita ist 1997 gestorben, Günther und Marianne sind in Rente gegangen.

Alexander Smoltczyk, 1958 in Berlin geboren, ist Reporter beim Spiegel. 1995 erhielt er den Kisch-Preis. Sein letztes Buch erschien 1996: Der Wald ohne Schatten. Reisereportagen, Ch. Links Verlag, Berlin 1996, 204 Seiten, 29,80 Mark. In mare No. 1 schrieb er über Austernessen in Paris.

Marcus Höhn, 1967 in Mainz geboren, studierte dort Freie Bildende Kunst. Seit 1996 lebt er als freier Fotograf in Hamburg und gehört der Agentur Signum an. Dies ist seine erste Arbeit für mare
Person Von Alexander Smoltczyk
Vita Nachtrag: Diese Reportage erschien zuerst am 8. 7. 1996 in der Hamburger Morgenpost. Inzwischen steht die Oberhafenkantine leer und auf Abriß. Anita ist 1997 gestorben, Günther und Marianne sind in Rente gegangen.

Alexander Smoltczyk, 1958 in Berlin geboren, ist Reporter beim Spiegel. 1995 erhielt er den Kisch-Preis. Sein letztes Buch erschien 1996: Der Wald ohne Schatten. Reisereportagen, Ch. Links Verlag, Berlin 1996, 204 Seiten, 29,80 Mark. In mare No. 1 schrieb er über Austernessen in Paris.

Marcus Höhn, 1967 in Mainz geboren, studierte dort Freie Bildende Kunst. Seit 1996 lebt er als freier Fotograf in Hamburg und gehört der Agentur Signum an. Dies ist seine erste Arbeit für mare
Person Von Alexander Smoltczyk