Hafen der getrogenen Hoffnung

„Wirtschaft kennt kein Vaterland“, lautet die Klage der Werftarbeiter von Perama bei Athen, die zusehen mussten, wie ihre Arbeitsplätze im globalisierten Schiffbau verloren gingen. Heute ist die aufgegebene Werft Treffpunkt und Trostort

Sein ganzes Leben trägt Aris Sithiropoulos in einer schwarzen Gürteltasche mit sich. Es sind nur ein paar Schriftstücke. Etwa die Abrechnung vom Arbeitsamt, aufgelistet nach Arbeitstagen. 2009 waren es sieben.

Er blättert weiter, schwarz auf weiß will er seine Misere dokumentieren. Hier: der Nachweis für die Beendigung der Arbeitslosenbezüge. Da: die Kündigungsklage des Vermieters wegen Mietrückständen von 2139 Euro.

Dicke Regentropfen klatschen auf den Asphalt am Eingang der Nafsi-Werft in Perama, und Sithiropoulos legt die Briefe erschrocken zusammen. Als hätten sie noch mehr Wert als zu dokumentieren, was kaum übersehbar ist: dass er keine Arbeit hat. Seine Hände sind sauber, ohne Schrammen, ohne Schmierölflecken und ganz ohne Trauerränder unter den Nägeln. Hände von Arbeitern, die Arbeit haben, sehen anders aus.

Zu tun gibt es kaum noch etwas auf der Werft in Perama, dem westlichsten Bezirk von Piräus. Viele Männer erscheinen dennoch täglich, sie palavern, schimpfen, holen sich Kaffee aus dem Laden am Eingang. Um die Mittagszeit wird es ruhiger, einige fahren nach Hause zum Essen. Sithiropoulos nicht. Er besitzt kein Zuhause mehr. Mal schläft er bei Freunden, mal in der Werft, im Windschatten einer Werkshalle oder in einem alten Kahn. „Ohne Strom, ohne fließend Wasser. Das ist das Schlimmste“, sagt er.

Seine Aufgabe war es, Eisenteile auf Ketten zu spannen. Eine schwere Arbeit. „Da konnte man in ein paar Monaten 5000 Euro verdienen.“ Oft gab es dann wieder monatelang gar nichts. Sein Vollbart ist ergraut, doch mit 55 ist Sithiropoulos für die Rente zu jung. Ohnehin wird er später keine bekommen, weil er als Gelegenheitsarbeiter nicht genug Meldetage aufweisen kann.

Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit, bei der in Griechenland ein Pauschalsatz von 461 Euro monatlich überwiesen wird, enden sämtliche finanzielle Hilfen. Danach gibt es nichts. Auch der Anspruch auf Krankenversicherung erlischt. Irgendwann ist alles Ersparte aufgebraucht, Strom und Wasser abgestellt. Der nächste Schritt ist Obdachlosigkeit.

So war es bei Sithiropoulos.

„Zum Glück gibt es die Ärzte“, sagte er und meint die „Ärzte der Welt“. Die Hilfsorganisation bezeichnet die Situation im Land als „humanitäre Krise“. „Alle sind betroffen. Griechen, Zuwanderer, alte Leute. Und besonders viele Familien mit Kindern“, erläutert Andreas Volis, ein Werftarbeiter, der als Ansprechpartner für „Ärzte der Welt“ fungiert.

Die Organisation hilft auch mit Lebensmitteln. „Doch die Spenden werden knapper. Die Gesellschaft stößt an ihre Grenzen“, sagt Volis. Die Not aber wachse. „Wir hatten schon vierjährige Kinder hier, die wegen Mangelernährung wie Zweijährige entwickelt waren. Außerdem gibt es nicht genug Impfstoffe für Kinder.“ Er sagt, die Situation sei beschämend.

Die Selbstmordrate in Griechenland hat sich seit Beginn der Krise mehr als verdreifacht. Deshalb bieten auch Psychologen Hilfe an. Sithiropoulos spricht mit ihnen über seine Schuldgefühle. Bei seiner elfjährigen Tochter, die bei der Mutter lebt, wurde Depression diagnostiziert. „Kein Wunder, wenn der Vater schon das vierte Jahr arbeitslos ist“, sagt er.

Theophilos Drepanos ist nicht obdachlos, offiziell zählt er auch nicht zu den 23 Prozent Arbeitslosen des Landes. Trotzdem steht der 48-Jährige am Abgrund. Mehr als 20 Jahre lang war er Matrose, zuletzt auf der „Dimitra“, einem kleinen Tanker. Nach der Restaurierung im Jahr 2010 nahm das Schiff niemals wieder Fahrt auf. Die Reederei hatte Schulden angehäuft. Hafengebühren und Angestelltenversicherungen blieben unbezahlt.

Würde man Drepanos kündigen, hätte er Anspruch auf drei Monatsgehälter Abfindung. Deswegen kündigt man ihm nicht, sondern lässt ihn das Schiff bewachen. Dafür muss er nachts dort schlafen. Manchmal bekomme er 30 Euro wöchentlich, sagt er, manchmal nichts. Warum er das mitmacht? Drepanos sitzt an Deck der „Dimitra“ und sagt: „Wenn es Arbeit gäbe, wäre ich kaum hier.“


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mare No. 94

No. 94Oktober / November 2012

Von Stella Bettermann und Alessandro Gandolfi

Stella Bettermann, Jahrgang 1963, Halbgriechin und freie Autorin in München, fiel die deprimierte Stimmung in Piräus auf. „Geschlossene Geschäfte, leere Cafés – so habe ich die Stadt noch nie erlebt.“

Für den italienischen Fotografen Alessandro Gandolfi, 1970 geboren, war es nicht einfach, die Werftarbeiter zu fotografieren. „Viele schämen sich, vor allem die, die ihr Zuhause verloren haben.“

Dank an Valantis Stergiou für die Mitarbeit.

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Vita Stella Bettermann, Jahrgang 1963, Halbgriechin und freie Autorin in München, fiel die deprimierte Stimmung in Piräus auf. „Geschlossene Geschäfte, leere Cafés – so habe ich die Stadt noch nie erlebt.“

Für den italienischen Fotografen Alessandro Gandolfi, 1970 geboren, war es nicht einfach, die Werftarbeiter zu fotografieren. „Viele schämen sich, vor allem die, die ihr Zuhause verloren haben.“

Dank an Valantis Stergiou für die Mitarbeit.
Person Von Stella Bettermann und Alessandro Gandolfi
Vita Stella Bettermann, Jahrgang 1963, Halbgriechin und freie Autorin in München, fiel die deprimierte Stimmung in Piräus auf. „Geschlossene Geschäfte, leere Cafés – so habe ich die Stadt noch nie erlebt.“

Für den italienischen Fotografen Alessandro Gandolfi, 1970 geboren, war es nicht einfach, die Werftarbeiter zu fotografieren. „Viele schämen sich, vor allem die, die ihr Zuhause verloren haben.“

Dank an Valantis Stergiou für die Mitarbeit.
Person Von Stella Bettermann und Alessandro Gandolfi