Gürtel um eine wässrige Welt

In Melvilles Jahrhundertroman „Moby Dick“ bahnt der Walfang der ökonomischen Globalisierung den Weg

Als Peter Sloterdijk vor einigen jahren den Versuch unternahm, mit seinem Buch „Im Weltinnenraum des Kapitals“ eine wirklich philosophische Theorie der Globalisierung zu entwickeln – also nicht nur als Philosoph auch irgendeine Meinung dazu im Feierabendton beizutragen –, konnte er sich dafür auf bemerkenswert wenige Texte aus der philosophischen Tradition beziehen. Umso wichtiger wurden ihm, und sind ja tatsächlich, jene Texte der Weltliteratur, die diesen Titel nicht nur deswegen verdienen, weil sie zu den bedeutendsten zählen, sondern auch deswegen, weil sie das Weltganze zum Thema haben. Solange unser terrazentrischer Literaturbegriff die Produkte von Venusianerinnen und Marsianern ignoriert, müsste man astronomisch korrekt eigentlich von „Erdliteratur“ sprechen. Doch auch „Erde“ ist ein zweideutiges, vielleicht sogar irreführendes Wort, weil es leicht vergessen macht, dass nur auf 29 Prozent des so bezeichneten Planeten das so bezeichnete Material an der Oberfläche liegt. Sloterdijk datiert den Anfang der Globalisierung daher plausibel nicht schon auf 1492/93, auf Kolumbus’ vergleichsweise kurze Reise über den Atlantik, sondern erst auf 1519–1522, auf die unter Magellan begonnene, ohne ihn vollendete erste Weltumsegelung. Nicht nur haben damit erstmals Menschen die (freilich schon damals längst nicht mehr umstrittene) Rundung der Erde körperlich nachvollzogen; überdies hat sich erst im Gefolge dieser Reise ein Bewusstsein für die riesige Ausdehnung des Pazifischen Ozeans und damit den hohen Anteil von Meer auf unserem Planeten herausgebildet.

Welt- oder Erdliteratur kann also nicht nur Landliteratur, sondern muss, idealiter zu 71 Prozent, auch Meeresliteratur sein. Und weil nun einmal Schiffe bis heute die einzigen Apparaturen sind, mit denen sich Menschen auf Meeren aufhalten können, handelt es sich dabei weitgehend um Schiffliteratur. Globalisierung basiert, vom ausgehenden 15. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, weitgehend auf Verschaltungen von Schiffen und Schriften. Zu diesen zählen vor allem auch die Log- und Bordbücher, die auf Schiffen selbst erstellt werden. Herman Melvilles Roman „Moby Dick“ von 1851 ist zwar kein Logbuch, beruht aber auf der erzähltechnischen Fiktion, sein Icherzähler, den wir nach der Aufforderung des allerersten Satzes Ismael nennen sollen, sei über weite Strecken des Romans zugleich ein „Ichautor“, der sein Buch bereits an Bord des Walfangschiffs „Pequod“ komponiert. So erzählt er nicht nur von dem monomanischen Kapitän Ahab, der dem weißen Wal Moby Dick nachjagt, um sich dafür zu rächen, dass er in einem früheren Kampf mit ihm ein Bein verloren hat. Sondern Ismael schaltet vielfältige Exkurse über den Wal und den Walfang im Allgemeinen ein, besonders dann, wenn die „Pequod“ in eine Flaute gerät. Dies ist nicht selten der Fall, da das Schiff bei seinem Untergang immerhin eine Zwei-Drittel-Weltumsegelung hinter sich hat – von Nantucket um das Kap der Guten Hoffnung durch die Straße von Sunda bis in die Nähe von Japan.

Unter den Funktionen des Schiffes für das Weltganze kann man die des Kontakt- und des Darstellungsmediums unterscheiden. Als Verkehrsmittel bringt das Schiff Menschen miteinander in Kontakt, die durch Zwischenräume getrennt sind. So ermöglicht es, was man die „Begegnung der Kulturen“ nennt, wobei mindestens zwei Missverständnisse drohen: Erstens sollte man sich diese Begegnungen im Regelfall als asymmetrische vorstellen. Europäische, seit dem 19. Jahrhundert auch US-amerikanische Schiffe landen häufig, um zu besetzen – Passagiere afrikanischer Boote müssen darauf hoffen, vor europäischen Küsten geborgen zu werden. Zweitens ist es der Ausnahmefall, dass eine bestimmte Strecke zum ersten Mal zurückgelegt wird; fast immer haben frühere Schiffe bereits Waren und Menschen von einem Ort zum anderen transportiert. Die „Kulturen“ sind also nicht mehr in Reinform anzutreffen, sondern haben längst, wie Goethe es in einem seiner Notate zur Weltliteratur ausdrückt, „manches Fremde in sich aufgenommen“. In „Moby Dick“ zeugt davon sogar schon, in makabrer Weise, der Name des Schiffes – die „Pequod“ heißt, wie Ismael ausdrücklich erklärt, nach einem „berühmten Indianerstamm aus Massachusetts, der inzwischen ausgelöscht ist“.

Das Schiff als Darstellung der Welt im Kleinen wurde spätestens von Horaz eingesetzt, der zumindest nach einer Leseanweisung Quintilians mit seiner Sorge um ein von den Stürmen umgetriebenes Schiff das Staatswesen seiner Zeit gemeint habe. Die Allegorie lässt sich ausbauen und beispielsweise mit dem „Lotsen“ Helmut Schmidt versehen. Schiffromane wollen allerdings nicht allegorisch gelesen werden, weil sie spezifische Erfahrungen der jeweils zeitgenössischen Schifffahrt ausgestalten. Schon mit ihrem nautischen Fachvokabular (das kein Nichthanseat versteht, ohne permanent die Planskizze eines Schiffes zu konsultieren) betonen diese Romane, dass es ihnen um konkrete Details des alltäglichen Kampfes mit Stürmen und Flauten geht. Und dennoch halten all diese Romane daran fest, dass ein Schiff nie nur ein Schiff ist, ein Kapitän nie nur ein Kapitän, ein Bootsmann nie nur ein Bootsmann.


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mare No. 73

No. 73April / Mai 2009

Von Robert Stockhammer

Robert Stockhammer, geboren 1960, ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er studierte, promovierte, lehrte, habilitierte sich und forschte zwischen 1980 und 2007 überwiegend in Berlin. Bereits sein jüngstes von vier Büchern, Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur (2007), enthält ein Kapitel über Melvilles Roman Moby Dick, der auch gegenwärtige Forschungen zum Verhältnis von Literatur und Globalisierung begleitet.

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Vita Robert Stockhammer, geboren 1960, ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er studierte, promovierte, lehrte, habilitierte sich und forschte zwischen 1980 und 2007 überwiegend in Berlin. Bereits sein jüngstes von vier Büchern, Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur (2007), enthält ein Kapitel über Melvilles Roman Moby Dick, der auch gegenwärtige Forschungen zum Verhältnis von Literatur und Globalisierung begleitet.
Person Von Robert Stockhammer
Vita Robert Stockhammer, geboren 1960, ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er studierte, promovierte, lehrte, habilitierte sich und forschte zwischen 1980 und 2007 überwiegend in Berlin. Bereits sein jüngstes von vier Büchern, Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur (2007), enthält ein Kapitel über Melvilles Roman Moby Dick, der auch gegenwärtige Forschungen zum Verhältnis von Literatur und Globalisierung begleitet.
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