Grundstudium

Als Geografin blieb Marie Tharp stets auf dem (Meeres-)Boden der Tatsachen. Doch mit ihrer Fantasie schmückte sie ihn aus

Im Wohnzimmer hört Marie Tharp die Wellen gegen das Flussufer plätschern. Im Winter rumpeln Eisschollen vorbei. Aus dem Fenster sieht man in der Ferne die Tappan Zee Bridge, wie sie sich über den Hudson River spannt. Der fließt 30 Kilometer weiter südlich an New York vorbei in den Atlantik. Näher ist Tharp nie ans Meer gekommen.

Das ist eine seltsame Sache. Denn ihr Leben lang zeichnete die Geologin den Meeresgrund. Sie veröffentlichte 1977 mit der Heezen-Tharp-Karte die erste komplette Topografie der Weltozeane. Punkt für Punkt übertrug sie mit Krähenfederkiel und Indientinte Millionen Echolotdaten auf Papier. Eine unglaubliche Leistung: In einem Vierteljahrhundert kartografierte Tharp rund 70 Prozent der Erdoberfläche. Die Arbeit verhalf der Theorie der Kontinentalverschiebung zum Durchbruch. Als eine der ersten Frauen setzte sich Tharp in der akademischen Welt der Geologie durch. Offizielle Anerkennung erhielt die 84-Jährige erst in den vergangenen Jahren.

Die Karte gleicht einem Gemälde: Dutzende blauer Schattierungen, durchbrochen von einem lila-braunen Gebilde – der Mittelozeanische Rücken, der sich im Zickzackkurs wie eine zerbrochene Kette um die Erde legt. So würde die Erde ohne das Wasser der Meere aussehen. Stolz vergleicht die Ozeanografin ihr Werk mit Satellitenaufnahmen. Obwohl Tharp freimütig zugibt, dass sie ganze Regionen intuitiv zeichnete, gleichen sich die beiden Karten erstaunlich. „Dort unten gibt es Abertausende Brüche und Spalten“, sagt Gary North, Fachmann der Kongressbibliothek, „aber Tharps Karte ist fast perfekt.“

Was selbst Eingeweihte nur ahnen: Die Karte ist ein Akt der Liebe. Die ganze Zeit arbeitete Tharp für Bruce Heezen, Professor an der Columbia University in New York. Am Institut für Geophysik war Heezen einer der Stars unter Direktor Maurice Ewing. Heezen schipperte im Schiff und U-Boot um die Welt und sammelte Tiefendaten, die Tharp in unermüdlicher Fleißarbeit umsetzte. Die beiden schenkten sich nichts. Des Öfteren warf Tharp aus Wut ein Tintenfass durch die Gegend – ein Fleck soll noch an einer Wand im Lamont-Doherty Earth Observatory zu sehen sein. Heezen galt als schwierig und dickköpfig, aber Tharp setzte sich in der Regel durch. Heezens plötzlicher Tod 1977 drängte Tharp an dem Rand des Abgrunds. Ob sie ein Liebespaar waren? Tharp sagt nur: „Ich habe für Heezen gearbeitet.“ Aber auf die Frage, warum sie nie geheiratet habe, antwortet sie: „Bruce war dagegen.“

Noch heute sieht Tharp mit ihren großen Augen und dem runden Gesicht wie die Unschuld vom Lande aus. Doch flucht sie gern wie ein Bierkutscher. Tharp antwortet auf Fachfragen zuerst: „Ich weiß nicht.“ Dann redet sie stundenlang über schwierigste Sachverhalte. Sie gibt sich schüchtern wie ein Schulmädchen, aber wehe, wenn nicht alles genau nach ihrem Willen läuft. Jahrzehntelang spielte sie ihre Verdienste herunter. Doch „ohne sie wäre die Karte nicht zustande gekommen“, sagt North, der sich in der Kongressbibliothek um den Nachlass von Heezen und Tharp kümmert.

Ohne ihre Bescheidenheit und ihren eigenwilligen Charakter hätte Tharp die ungezählten Stunden der monotonen Zeichenarbeit wohl nicht durchgehalten. Tharp fand ihr Zuhause im Kartenraum – weil sie in ihrem Leben sonst nirgendwo richtig hineinpasste.

Als einziges Kind ihrer Eltern reiste Tharp lange Zeit kreuz und quer durch die USA. Ihr Vater William Edgar Tharp erforschte als Gutachter des Landwirtschaftsministeriums Amerikas Bodenqualität. Im Sommer tourten sie durch den Norden, im Winter waren sie im Süden unterwegs. Tharp besuchte bis zum High-School-Abschluss 15 Schulen und zog 46 Mal um. In Alabama beschimpften die Kinder sie als Yankee und Nordstaatlerin. „Ich war immer die Fremde“, sagt Tharp.

Ihr größtes Glück als Kind war es, am Wochenende ihrem Vater bei der Arbeit mit seinen Assistenten zuzuschauen. Dann klappte er den dreibeinigen Zeichentisch auseinander, um den Gebietsabschnitt zu skizzieren. „Auf keinen Fall durfte ich irgendetwas berühren“, sagt sie. Wenn es regnete, blieb der Vater zu Hause und übertrug die Daten fein säuberlich auf eine größere Karte.

An der Ohio University wusste Tharp nichts mit sich anzufangen. Jedes Semester schrieb sie sich für ein neues Fach ein; von Literaturwissenschaft über Theologie bis zu Philosophie probierte sie alles aus. „Ich konnte nicht tippen, also keine Sekretärin werden. Ich konnte kein Blut sehen, also keine Krankenschwester werden. Und ich konnte Kinder nicht ausstehen, also keine Lehrerin werden“, sagt Tharp.

Der Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg 1943 änderte alles. „Pearl Harbor war der größte Glücksfall“, sagt Tharp. Durch die Einziehung der wehrfähigen Männer fehlten dem Geologieinstitut der University of Michigan Studenten. Mit einem Handzettel brach die Universität mit ihren Gepflogenheiten und warb erstmals um weibliche Bewerber. Tharp gehörte zu den ersten zehn Geologiestudentinnen – angelockt von dem Versprechen, einen Arbeitsplatz in der Ölindustrie sicher zu haben.

Tatsächlich arbeitete Tharp nach dem Studium bei Stanolind Oil and Gas in Oklahoma. Sie wertete Daten über Ölfelder aus, durfte aber nie Untersuchungen durchführen oder an den Entscheidungen über Bohrungen teilnehmen. Aus Langeweile studierte sie an der Abenduniversität Mathematik. Nach vier Jahren war sie den Job leid – und ertrug die Trennung vom Vater, der inzwischen in Ohio eine kleine Farm gegründet hatte, nicht mehr länger. Um in seiner Nähe arbeiten zu können, bewarb sich Marie Tharp 1948 bei der Columbia University in New York. „Es war die einzige Universität, die ich in der Stadt kannte.“ Ihre Kombination von Geologie und Mathematik weckte das Interesse von Professor Ewing. Er holte sie an seinen Lehrstuhl für Geophysik.

Ewing war zu der Zeit eine Kapazität der Sonartechnik. Er gründete 1949 an der Columbia University das Lamont Geology Observatory, heute das Lamont-Doherty Earth Observatory. Mit zwei Forschungsschiffen sammelte er weltweit Daten über Meeresboden, Magnetfelder oder Wassertemperaturen. Nach einem Vortrag in Iowa sprach Ewing den Paläontologiestudenten Bruce Heezen an. Ewing lockte ihn in einen schlecht bezahlten Assistentenjob – mit der Aussicht auf Abenteuer auf hoher See. „Es gibt einige Berge dort unten, und wir wissen nicht, in welcher Richtung sie verlaufen.“

Heezen wechselte zu Ewing, 1952 erhielt Heezen Marie Tharp als Zeichnerin zugewiesen. Sie übertrug Heezens atlantische Sonarmessungen in nach Proportion und Skala stimmige Karten. Doch Tharp war nicht die graue Maus aus dem Kartenraum. Aus Neugier erstellte sie Profilzeichnungen von sechs Schlüsselregionen. Als sie die Karten nebeneinander stellte, fiel ihr sofort auf: Die Gebirgskämme ähnelten einander im Querschnitt verblüffend. Tharp hatte den Mittelozeanischen Rücken entdeckt, mit 74 000 Kilometern das längste Gebirge der Welt.

Bei genauerem Hinsehen offenbarten ihre Zeichnungen einen bis zu anderthalb Kilometer langen Graben, eine Schlucht, die die Gebirgskette im Scheitel spaltete. „Die einzelnen Berge waren verschieden, aber die Kluft glich sich oft bis aufs Haar“, sagt Tharp. Ihr war klar: Das könnte ein Riss sein, der von einer Kontinentalverschiebung herrührt. Doch Heezen stöhnte nur auf, als sie ihm davon erzählte, und tat es als „Mädchengeschwätz“ ab.

Heezens Reaktion verwundert nicht. Damals galt die Theorie der Kontinentalverschiebung als Blödsinn. „Ich gehörte nicht zur akademischen Welt und hatte nichts zu verlieren“, sagt Tharp.

Ein Zufall verhalf der Theorie zum Durchbruch. Der Telefonkonzern Bell Telegraph hatte ein Problem: Einige der auf dem Meeresboden verlegten transatlantischen Kabel waren gerissen, vermutlich durch Erbeben. Bell Telegraph wollte neue Stränge verlegen und beauftragte Ewing und Heezen mit einem Gutachten. Heezen sammelte Erdbebendaten und ließ sie von einem tauben Diplomstudenten in Atlantikkarten einzeichnen. Er arbeitete an einem Tisch neben dem von Marie Tharp. Schon bald erkannte sie: Die Erdbeben traten vor allem entlang der Kluft im Mittelozeanischen Rücken auf – ein Beweis für den tektonischen Prozess des „Seafloor-Spreading“.

Ewing und Heezen veröffentlichten 1956 ihre Erkenntnisse in der Studie „The Mid-Atlantic Ridge Seismic Belt“. Nach einem Vortrag Heezens 1957 in Princeton stand Harry Hess, Leiter des dortigen geologischen Instituts, auf und sagte: „Junger Mann, Sie haben die Fundamente unserer Wissenschaft erschüttert.“ Von Marie Tharp war nie die Rede. Aber das störte sie nicht. „Ich war froh, immer im Hintergrund zu bleiben und mit solch talentierten Menschen arbeiten zu können.“

Heute zweifelt niemand mehr an der Kontinentalverschiebung. An den Zentralschluchten des Mittelozeanischen Rückens bricht die dünne ozeanische Kruste auf. Würde man den Vorgang filmen und eine Million Jahre auf eine halbe Stunde raffen, könnte man sehen, wie riesige Mengen von Material aus der Tiefe der Erde quellen und den Meeresboden immer weiter nach Osten und Westen beiseite schieben. Jedes Jahr bewegt sich der Meeresgrund auf diese Weise fünf bis 18 Zentimeter nach beiden Seiten vom Mittelozeanischen Rücken weg und verschiebt dabei ganze Kontinente. Im Atlantik drängen Europa und Afrika nach Osten, und der Doppelkontinent Amerika gleitet weiter nach Westen. Der Atlantik wird so jedes Jahr um rund fünf Zentimeter breiter. In zehn Millionen Jahren sind das bereits 500 Kilometer. Und Marie Tharp hat es entdeckt.

Das Haus von Tharp in South Nyack ist Museum, Büro, Schrein und Alterssitz zugleich. Der Besucher wird vom Chaos fast erschlagen: Ausgestopfte Waschbären, Meereskarten, Gemälde der Großmutter oder eine Sammlung von Holzenten drängen sich im Wohnzimmer. Überall hängen Bilder und Fotos vom Vater und von Heezen. Auf dem Kamin steht eine Bronzestatue vom Vater, die Marie Tharp Ende der vierziger Jahre anfertigte. Beinahe hätte sie auch eine von Heezen gemacht. „Aber mit seinem fetten, runden Kopf hätte das nicht gut ausgesehen“, sagt sie.

Tharp und Heezen waren ein ungewöhnliches Paar: beide groß und schlaksig. Und sie versteckten ihre Beziehung. „In den fünfziger Jahren flog man von der Columbia University, wenn man mit jemandem aus der Universität ins Bett ging“, sagt Tharp. „Die Leute haben sich ihre Gedanken über uns gemacht.“ Die Freizeit verbrachten sie oft mit Studenten, kochten und aßen zusammen. „Verheiratete Paare haben uns nie eingeladen.“ Warum machten sie ihre Beziehung nie öffentlich? Tharp schweigt. Sie erzählt lieber von ihren gemeinsamen Reisen nach Japan, Ägypten, Europa. Beide liebten Gemälde, besuchten Museen und hassten Sport. „Wir waren keine typischen Amerikaner. Zu anspruchsvoll.“ Stolz erzählt sie, wie sie Heezen die Musik von Beethoven oder Haydn näher brachte. „Vorher hörte er sich nur romantischen Mist an.“

Heezen wurde 1965 von Ewing aus dem Observatorium gedrängt. Tharp und Heezen zogen sich in ihre Häuser am Hudson zurück – fünf Kilometer voneinander entfernt. Heezen sicherte sich Forschungsgelder, seine Eltern unterstützten ebenfalls die Fertigstellung der Meeresbodenkarte. Schon bald verwandelte sich Tharps Haus in ein Institut; bis zu 16 Mitarbeiter setzten die von Heezen beschafften Tiefenlotungen unter Aufsicht von Tharp in Karten um. Doch veröffentlichen konnten sie die Karten nicht. Die US-Marine betrachtete sie als kriegswichtig. Heezen suchte nach einem Kompromiss: Ob sie nur die physiografische Karte ohne Tiefenangaben publizieren könnten? Die Militärs waren einverstanden – und die heutige Heezen-Tharp-Karte war geboren.

Fehlten Daten von Meeresregionen, ließ sich Marie Tharp oft von ihrer Intuition leiten. „Wäre es nach mir gegangen, hätte ich auch Meerjungfrauen hineingemalt.“ Einige untermeerische Berge am Südpol benannte sie nach Freunden oder Heezens Cockerspaniel Inky. Als die Marine davon erfuhr, mussten sie die Namen wieder herausnehmen.

Berühmt wurden Heezen und Tharp durch das Wissenschaftsmagazin „National Geographic“, das zuerst die Bodenkarte des Indischen Ozeans und dann die aller Weltmeere druckte. Allerdings waren den Redakteuren Tharps Tintenzeichnungen nicht anschaulich genug. „National Geographic“ heuerte den Österreicher Heinrich Berann an, der vorwiegend Alpenpanoramen malte. Das erwies sich als beste Übung für die Gebirge am Meeresboden.

„Die Zusammenarbeit war fantastisch“, sagt Tharp.

Die Druckfahnen sah Heezen 1977 noch. Doch im gleichen Jahr starb er bei einer Erkundungsfahrt auf einem U-Boot der US-Marine an Herzversagen. Es war für Tharp, als ob die Fertigstellung der Karte auch den vollständigen Abschied von Heezen bedeutete. Noch als die Weltkarte schon im Druck war, ließ sie die Maschinen mehrfach wegen angeblicher Mängel in den Druckfahnen anhalten. Zu finden war nicht viel, und schließlich fügte sich Tharp dem Schicksal.

Als Tharps Assistent Lex Reibestein 1983 erstmals ihr Haus betrat, türmten sich Papierpyramiden bis an die Decke. Seitdem wühlen sich Tharp und Reibestein durch die Arbeitsproben, Zeichnungen und Karten. Die Dokumente ordnen sie für das Washingtoner Smithsonian Institute und die Library of Congress. Eigentlich sollte das 1995 begonnene Projekt nur ein Jahr dauern.

Das Lamont-Doherty Earth Observatory verlieh Tharp 2001 einen Orden. „Die Karten revolutionierten unser Verständnis von unserem Planeten auf so dramatische Weise, wie es Kopernikus vor Jahrhunderten tat“, sagte der Institutsleiter G. Michael Purdy in seiner Festrede. Nach der Zeremonie rollte Tharp mit ihren großen Augen und sagte: „Noch nie haben so viele Menschen so nette Sachen über mich gesagt.“

Wer sich die neueste Karte kauft, sollte sich die Unterwassergebirge um den Südpol anschauen. Da findet sich in der Marie-Gruppe, ungefähr auf 58° Süd und 114° West, ein Berg mit dem Namen Lex, dem des Assistenten. In der Heezen-Gruppe auf 70° Süd und 128° West liegt der Cockerspaniel Inky. „Jetzt, da ich die ganzen Auszeichnungen erhalten habe, habe ich die Namen aller Mitarbeiter wieder hereingenommen“, sagt Tharp.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 47. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 47

No. 47Dezember 2004 / Januar 2005

Von Thomas Jahn und Antonin Kratochvil

Thomas Jahn, Jahrgang 1965, arbeitet als Journalist in New York. Tharp erwähnte ihre heimliche Liaison mit Heezen mit keinem Wort – bis sie sich nach vielen Stunden des Gesprächs auf die Frage, warum sie nie geheiratet hat, offenbarte.

Der Tscheche Antonin Kratochvil, geboren 1947, ist Gründungsmitglied der Pariser Fotoagentur VII.

Mehr Informationen
Vita Thomas Jahn, Jahrgang 1965, arbeitet als Journalist in New York. Tharp erwähnte ihre heimliche Liaison mit Heezen mit keinem Wort – bis sie sich nach vielen Stunden des Gesprächs auf die Frage, warum sie nie geheiratet hat, offenbarte.

Der Tscheche Antonin Kratochvil, geboren 1947, ist Gründungsmitglied der Pariser Fotoagentur VII.
Person Von Thomas Jahn und Antonin Kratochvil
Vita Thomas Jahn, Jahrgang 1965, arbeitet als Journalist in New York. Tharp erwähnte ihre heimliche Liaison mit Heezen mit keinem Wort – bis sie sich nach vielen Stunden des Gesprächs auf die Frage, warum sie nie geheiratet hat, offenbarte.

Der Tscheche Antonin Kratochvil, geboren 1947, ist Gründungsmitglied der Pariser Fotoagentur VII.
Person Von Thomas Jahn und Antonin Kratochvil