Grosser Fisch, wo bist du?

Vor 50 Jahren wurde ein präparierter Finnwal als Attraktion durch Europa gekarrt. Unser Autor begab sich auf die Suche

Ivalo, Lappland, im Juni2008. Der finnische Nationalzirkus hielt sein nördlichstes Gastspiel für dieses Jahr. Noch schimmerte Schnee von den Kuppen des Saariselkä, es nieselte und war kühl, fröhliche Weißrussen stemmten das Zirkuszelt in die Höhe. Der österreichische Clown des Ensembles, er stammte aus meiner Heimatstadt Graz, ich sollte ihn über Lachen und Nichtlachen bei nördlichen Finnen interviewen, war leider schlecht aufgelegt. Er sprach von sich selber zuweilen in der dritten Person. Hatte unseren gemeinsamen Dialekt verlernt, dafür aber habe er „schon als Dreijähriger davon geträumt, Clown zu werden“. War viel zu selbstbetrunken für ein Interview. Als ich langsam begriff, dass aus meiner Geschichte über den Heimatclown wohl nichts wird, stellte der mir gelangweilt seinen Chef vor. Voilà, der einzige Zirkusdirektor in Finnland (es gibt nur einen Zirkus) – Carl-Gustaf Jernström. „Nenn mich Kalle“, rief er gleich. War ein Mannsbild, groß und schlacksig und bärtig und viel lustiger als der Clown. Wir standen im Schlamm vor dem wachsenden Zelt, und bald fing Kalle an, auf Deutsch zu radebrechen. Ich ließ das Tonband mitlaufen. „Ach, ich habe ja viel mit einem Schweizer gemacht“, sagte er. „In den Siebzigern, da bin ich mit seinem Truck gefahren. Wir hatten einen riesigen Wal auf einem Auflieger und fuhren damit durch das ganzeEuropa.“ Wie denn der Besitzer des Wales geheißen habe? „Ueli Schlaepfer. Ein Schweizer. Ein Original.“

„Nur, was mache ich mit einem alten Wal?“ (Carl-Gustaf Jernström, Finnland)

Kalle ging jetzt auf. Er beschrieb mir den Alltag der Schausteller minutiös und in Farbe. Im amerikanischen Straßenkreuzer seien er und Schlaepfer immer einen Tag vor der großen Show in die vorgesehene Ausstellungsstadt gefahren, um zu sehen, ob der Wal wohl auf den Hauptplatz passt. „Dann gingen wir essen, nur ins erste Haus am Platz“, erinnerte er sich. „Und irgendwo – ich glaube, es war Antwerpen, oder Anderlecht, mit A jedenfalls – parkten wir den Wal dann quer über den Markt, sodass die Leute durchgehen und Eintritt zahlen mussten. Weil anders kamen sie nicht vorbei.“

Ohne Schlaepfer, der ihm Geld vorschoss, hätte er im Jahr 1975 den Zirkus Finlandia niemals kaufen können, sagte Kalle. Und er erzählte, leiser werdend, dass er vor drei Jahren überraschend einen Anruf von Schlaepfer bekommen habe. Der wollte den Wal verkaufen, für eine Stange Geld, „ich glaube, er verlangte 250 000 Franken. Schön und gut. Nur, was mache ich mit einem alten Wal?“ Kalle schlug den Handel aus. Drei Wochen später habe er erfahren, dass Ueli gestorben sei. Kalle rief gemeinsame Bekannte an, Schausteller oder Zirkusvolk, und erfuhr, dass Schlaepfer jedem von ihnen den Wal angeboten hatte, ohne Erfolg. Dann erschoss er sich. „Der Ueli war völlig ruiniert, das haben wir später erfahren. Er hat wohl keinen Ausweg mehr gesehen. Sicher, wir hätten das Geld schon aufgetrieben, aber er hatte ja nichts gesagt. Nie geklagt. War immer ein herrasmies“ [finnisch für Gentleman, die Red.].

Und dann schenkte mir Kalle noch sein Buch, das Buch „Zirkus Finlandia“: Auf Seite 138 steht Schlaepfer, ganz Filou mit lausbubenhaftem Grinsen und Clark-Gable-Bärtchen, in einem Fass mit Wasser. Nackt bis auf die Unterhose, lässt er sich von einer jungen Frau in Schürze einseifen. Auf Seite 139, endlich, Jonah, ein Finnwal. Das Maul aufgestemmt, ruht sein Kadaver auf einem Anhänger, angetan mit weißen Täfelchen, „Barten“ steht da, „Unterkiefer“ oder eher traurig „Auge“. Und am Trailer ist sein voller Name zu lesen, „‚Jonah‘ The Giant Whale“.

„Nei, das isch luschtig. Ich han no nie än Wal besesse.“ (Hans Ueli Schlaepfer, Schweiz)

Es war der Falsche. Und meine Fahndung nach Jonah – ich war lange aus Ivalo zurück, hatte mich monatelang mit der Clowngeschichte abgequält und suchte nun nach Spuren eines toten Wales –, nach dem Schweizer Schausteller selbst, nach seinen Kompagnons oder Angehörigen, sie verlief im Sand. Dabei gab es nicht viele Ueli Schlaepfer in der Schweiz. Einer war Metzger gewesen und Raubmörder und wurde am 1. Juli 1862 auf dem Richtplatz in Trogen enthauptet, die letzte Hinrichtung im Appenzellerland. Dann Hans Ueli Schlaepfer aus Zollikon, ein Troubadour und Unterhalter, ihn hatte ich am Telefon, und er bestritt alles und lachte – auch sein Vater habe keinen Wal besessen, auch kein Onkel, niemand in seiner Familie. Nur noch ein Ueli Schlaepfer auf meiner Liste, auch hier scheinbar kein Glück. Dachte ich erst einmal. Denn was es von ihm gab, war, vor Jahren verfasst vom Schießverein Hirslanden-Riesbach bei Zürich, sein Nachruf: „Ueli Schläpfer, 5. Juli 1941 – 24. Juli 2005 … trat anfangs der 80er Jahre in unseren Verein ein … Obwohl Schützenmeister, war Ueli nie ein ,Spitzenschütze‘. Von seinem Vater übernahm er eine Künstleragentur, für die er Tag und Nacht im In- und Ausland auf Achse war. Trotzdem war er immer bereit, wenn man ihn brauchte … Seine Beerdigung war wie sein Leben: eindrücklich!“

Er war der Richtige. Der Walbesitzer Ueli Schlaepfer hatte sich, wiewohl kein Spitzenschütze, mit einer Pistole entleibt, das stimmte mit der Version des Zirkusdirektors überein. Kein Wort vom Wal oder einer Familie, der die Walleiche zu-gefallen war. Vielleicht weiß der deutsche Zauberer Magic Hernando mehr? Auf dessen Homepage, im Gästebuch, stehen die letzten und einzigen vom Internet überlieferten Worte des Ueli Schlaepfer: „Lieber Hermann. Auch der wilde Westen findet sein Ende. War gut Dich anzutreffen. Erwarte Deine Post. Grüsse Ueli Schlaepfer, ASAM <musicagency@bluewin.ch> 8030 Zürich Schweiz – Samstag, 14. September 2002 um 12:24:55 Uhr.“


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mare No. 82

No. 82Oktober / November 2010

Von Thomas Ernst Brunnsteiner

Thomas Ernst Brunnsteiner, Jahrgang 1974, lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Vaattojärvi, Nordfinnland, und schreibt Reportagen unter anderen für die NZZ, Süddeutsche, Lettre und taz. Sein erster Roman, Taten, erscheint im Herbst im Innsbrucker Verlag Kyrene.

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Vita Thomas Ernst Brunnsteiner, Jahrgang 1974, lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Vaattojärvi, Nordfinnland, und schreibt Reportagen unter anderen für die NZZ, Süddeutsche, Lettre und taz. Sein erster Roman, Taten, erscheint im Herbst im Innsbrucker Verlag Kyrene.
Person Von Thomas Ernst Brunnsteiner
Vita Thomas Ernst Brunnsteiner, Jahrgang 1974, lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Vaattojärvi, Nordfinnland, und schreibt Reportagen unter anderen für die NZZ, Süddeutsche, Lettre und taz. Sein erster Roman, Taten, erscheint im Herbst im Innsbrucker Verlag Kyrene.
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