Grenzgänger

Vor 30 Millionen Jahren zog der Urahn aller Robben vom Land ins Meer. Seine Nachkommen haben sich erstaunlich entwickelt

Vor langer, langer Zeit lebte eine junge Frau namens Avilayoq. Sie war von solcher Schönheit, dass viele Männer sie zum Weibe begehrten. Eines Tages verliebte sie sich in einen Fremden, mehr Vogel als Mensch, und folgte ihm auf eine abgelegene Insel. Der Vogelmann meinte es nicht gut mit seiner Frau, und die Unglückliche rief nach ihrem Vater. Sie bat ihn, sie mit dem Boot wieder nach Hause zu bringen. Als der Gatte die Flucht bemerkte, raste er vor Zorn und schickte einen gewaltigen Sturm über das Meer. Um sein eigenes Leben zu retten, warf der Vater seine Tochter über Bord. Ihre Finger, mit denen sie sich am Boot festzuklammern versuchte, hackte er Stück für Stück ab. Sie fielen in die tosenden Fluten und verwandelten sich in Robben und Wale.

Das Mädchen sank auf den Grund und wurde zur Meeresgöttin Nuliajuk. Wann immer sie erzürnt war, scharte sie ihre salzwassergeborenen Kinder um sich und hielt sie fern von denen, die das Land bewohnten. Doch die Inuit wussten sich zu helfen. In der Not erbaten sie mit magischen Worten die Gnade ihrer allmächtigen Göttin.

Die Wissenschaftler suchen auf die Frage, wie Robben ihren Weg ins Leben gefunden haben, andere Antworten. Die Meeressäuger sind Grenzgänger, Wanderer zwischen den Welten, sie bewohnen das Land und das Meer, zwei Lebensräume, die unterschiedlicher nicht sein können. Den Bauplan der Robben oder Flossenfüßer (Pinnipedia: lateinisch pinna, Flosse, und pes, Fuß) musste die Evolution daher einer doppelten Prüfung unterziehen.

Die Wege aller Robben führen zurück aufs Land. Viele Forscher plädierten lange Zeit dafür, dass es zwei Fleisch fressende Landbewohner waren, die unabhängig voneinander ins Wasser stiegen: Aus einem bärenähnlichen Neuankömmling im Nordpazifik gingen demnach die Ohrenrobben (Otariidae) hervor, also die Seelöwen und Pelzrobben – gut zu erkennen an ihren kleinen Schlappöhrchen. Ein otterähnlicher Vertreter im Nordatlantik entwickelte sich zu den Hundsrobben oder Echten Robben (Phocidae). Zu ihnen gehören die Seehunde, die See-Elefanten, die Mönchsrobben und antarktischen Robben.

Das Walross, der einzige Vertreter der dritten Robbenfamilie (Odobenidae), sitzt stammesgeschichtlich zwischen allen Stühlen. Der schwergewichtige Arktisbewohner mit den langen Eckzähnen hat von allen Verwandten ein bisschen. Neuere Untersuchungen, insbesondere der Blick ins Erbgut, zeigen ein anderes Bild: Demnach gehen alle Flossenfüßer auf einen einzigen Urahnen zurück, der sich vor mindestens 30 Millionen Jahren dem Meer zuwandte.

Nach ihrer Wassertaufe haben sich die Robben über den Erdball ausgebreitet. In den eisigen Polarregionen halten es nur Walrosse und Hundsrobben aus. Rund um den Nordpol etwa leben die mit einem üppigen Schnauzbart ausgestatteten Bartrobben. Die etwas verschmitzt dreinblickenden Weddellrobben haben sich mit den Rossrobben, den Seeleoparden und den Krabbenfressern in der Antarktis nie-dergelassen. Viele Seelöwen und Pelzrobben lieben das tropische und subtropische Klima. Der Nördliche Seebär und der Stellersche Seelöwe allerdings wagen sich in kältere Gefilde wie das Beringmeer vor. In Europa fühlen sich Seehunde und Kegelrobben heimisch. Ausgesprochene Warmwasserfreunde sind die Mönchsrobben. Einige Flossenfüßer haben das Süßwasser für sich entdeckt: Die Saimaa-Ringelrobbe bewohnt den finnischen Saimaasee.

Seelöwen und Pelzrobben gelten als die agilsten Landgänger unter den Robben. Sie können ihre Hinterflipper unter den Körper drehen und auf allen Vieren watscheln, wenn es sein muss, auch galoppieren. Hundsrobben, die rund 90 Prozent des Robbenaufkommens in der Welt stellen, wirken auf dem Trockenen eher unbeholfen. Ihre hinteren Flossen lassen sich nicht mehr in Marschrichtung positionieren. Die kleinen Vorderflossen eignen sich besser zum Stützen als zum Schreiten. Die Tiere bewegen sich ähnlich einer Raupe durch abwechselndes Aufsetzen von Hinterteil und Vorderteil voran, nur flotter.

Unterschätzen sollte man sie nicht. Krabbenfresserrobben, die ihr Gebiss in einen Filterapparat für Krill umgewandelt haben, schlittern bei Gefahr mit etwa 25 Kilometern pro Stunde über das Eis. See-Elefanten, die auf ihrer Körperlänge von rund vier Metern das Gewicht von drei Mittelklassewagen verteilen, liegen zwar gerne träge herum. An Eindringlinge schleichen sich die Giganten mit dem aufblasbaren Nasenrüssel aber lautlos heran, richten sich hoch auf und lassen sich mit ihrer gewaltigen Masse auf das Objekt des Anstoßes fallen.


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mare No. 44

No. 44Juni / Juli 2004

Von Ute Schmidt

Ute Schmidt ist Biologin und freie Wissenschaftsjournalistin. Eine Einladung, an einer Pressereise an einen Ort des Robbenabschlachtens teilzunehmen, hat sie in einen Zielkonflikt gestürzt: Ethik und Ekel gegen journalistische Neugier. Sie grübelt noch.

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Vita Ute Schmidt ist Biologin und freie Wissenschaftsjournalistin. Eine Einladung, an einer Pressereise an einen Ort des Robbenabschlachtens teilzunehmen, hat sie in einen Zielkonflikt gestürzt: Ethik und Ekel gegen journalistische Neugier. Sie grübelt noch.
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Vita Ute Schmidt ist Biologin und freie Wissenschaftsjournalistin. Eine Einladung, an einer Pressereise an einen Ort des Robbenabschlachtens teilzunehmen, hat sie in einen Zielkonflikt gestürzt: Ethik und Ekel gegen journalistische Neugier. Sie grübelt noch.
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