Götterspeise für die Fantasie

Poseidon ließ seiner Gier nach Sex freien Lauf

Er war ein Bruder des Chefs, was bekanntlich außer Privilegien auch Probleme für das Ego mit sich bringen kann. Zumindest im Bereich der Erotomanie jedoch erwies sich sein Tatendrang als ebenbürtig. Er trieb es mit allen Frauen, die seine Lenden reizten, und ob die Affären standesgemäß waren oder nicht, spielte so wenig eine Rolle wie der Umstand, dass er verheiratet war. Manche Quellen geben die Zahl seiner Geliebten mit 174 an, doch das muss man wohl eher symbolisch als arithmetisch nehmen.

Auch was die Resultate dieser durchweg ungeschützt vollzogenen Begegnungen angeht, gibt es keine standesamtliche Statistik. Doch dass seine Nachkommenschaft sehr zahlreich war, steht außer Zweifel. Dabei hätte der Mann eigentlich voll ausgelastet sein sollen durch seinen Job. Ihm unterstand die globale Seefahrt, ferner die Fortbewegung zu Lande, soweit sie durch Pferde und pferdegetriebene Fahrzeuge erfolgte, und obendrein war er noch Fachmann für spektakuläre Naturkatastrophen wie Orkane und Erdbeben. Bleibenden Ruf und Ruhm verdankte er jedoch der etwas zu pauschalen Berufsbezeichnung Meeresgott: Poseidon.

Schiffe, Frauen, Sensationen – wenn das kein apartes Sortiment an Lebensinhalt ist. Um solch einen Kerl würden sich die Privatsender und die Yellow Press reißen. Nur ist es dafür zu spät, weil Poseidon, wie die meisten Götter, längst tot ist, trotz der angeblich familientypischen Eigenart, unsterblich zu sein. Poseidon, der Gott der Meere und der Pferde und der Frauen, ist genau so dahingegangen wie all die anderen, die einst als Global Players mit dem Schicksal und den Vorstellungen der Sterblichen spielten – und vice versa.

Geblieben ist der offenbar unverwüstliche Mythos. Immer noch werden Forschungsschiffe oder Strandhotels nach Poseidon benannt. Ob sich die Taufpaten stets klar darüber sind, wessen Geist sie da herbeizitieren, ist freilich die Frage.

Die alten Griechen waren nämlich Schlitzohren – Pragmatiker, vornehmer gesagt –, und das nicht nur im Konkreten, sondern auch in Bezug auf die höheren Dinge. Sie haben uns die Demokratie und die Philosophie und die schönen Künste geschenkt, vor allem aber die wichtige Erkenntnis, dass auch Götter nur Menschen und, bei aller mehr oder minder glaubwürdigen Unsterblichkeit, gesegnet sind (oder geschlagen, wie man will) mit jenen Eigenschaften, die unsere Art erst interessant machen: Lust an Intrige und Verrat, Gewalt und Exzess, Sex und Totschlag, Betrug und Gier, Inzest und Elternmord – lauter Stoff für Schlagzeilen.

Kommt einiges davon zusammen in einer Geschichte, so mag es sich um den aktuellen Film einer Hollywood-Göttin handeln – wenn nicht ein Stück aus ihrer Biografie – oder um jüngsten Klatsch aus einem der europäischen Adelshäuser, die uns heute als Olympersatz dienen. Kommt jedoch alles zusammen, liegt die Sache länger zurück, schätzungsweise um die 3000 Jahre. Das war die Zeit, als die Griechen sich ihre Götterwelt erschufen.

Dass der Mensch sich Gott nach seinem Ebenbild machte, wissen wir seit Feuerbach. Aber die meisten anderen Religionen, etwa das Christentum, wirken hinsichtlich der Personalausstattung nicht annähernd so zeitgemäß boulevardesk wie die griechische Mythologie. Das macht ja den Kern des echten Mythos aus: dass er letztlich zeitlos ist und damit immer up to date. Um richtig gute Mythen zu erfinden, bedarf es wahrscheinlich solch genialer Schafhirten und Spinner von Seemannsgarn wie eben der Griechen, und die sind selten. Die römische Variante der Top-greek-celebrities, in der nahezu alle Olympier unter neuen Namen wieder auftauchen, war eine eher biedere Versammlung. Aber was will man von militaristischen Imperialisten auch anderes erwarten? Zumal Neptun, der römische Poseidon, ein echter Langeweiler war, nicht nur, weil die Römer mit der Seefahrt wenig im Sinn hatten.

Der griechische Götterglaube nahm in gewisser Weise vorweg, was in der heutigen Epoche der Paparazzi als Futter für den ganz alltäglichen Voyeurismus gilt – Götterspeise für die Fantasie gewissermaßen. Die Erkenntnis, dass die da oben es nicht anders, sondern höchstens noch toller treiben, befriedigt offenbar ein Grundbedürfnis des Menschen, nicht erst, seit es den Boulevard gibt. Das Göttliche ist im Grunde die Projektionsfläche des allzu Menschlichen. Außerdem hatten die Griechen ein besonders hübsches Verhältnis zu den Tatsachen: Wahr ist, was schön ist oder wenigstens gut klingt – so lautete die Devise, die im Blick auf eine bestimmte Promiberichterstattung ziemlich modern anmutet.

Zu dem Megamacho Poseidon würde heute außer den Schlagzeilenproduzenten sicher auch den Psychologen einiges einfallen. Dass Sex und Flüssigkeiten miteinander zu tun haben, wäre noch der harmlosere Aspekt, ohnehin stammt ja alles Leben – und folglich auch Lieben – aus dem Wasser. Aber in Poseidons Vita floss auch noch anderes, beispielsweise Blut, und das nicht zu knapp.


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mare No. 31

No. 31April / Mai 2002

Von Benjamin Worthmann

Der Journalist und Autor Benjamin Worthmann lebt in Berlin. Sein Roman Etwas ist immer ist kürzlich im Goldmann-Verlag erschienen.

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Vita Der Journalist und Autor Benjamin Worthmann lebt in Berlin. Sein Roman Etwas ist immer ist kürzlich im Goldmann-Verlag erschienen.
Person Von Benjamin Worthmann
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