Goodbye

Auf Tangier Island in der Chesapeake Bay, direkt vor der Haustür der US-Hauptstadt Washington, D.C., wird der Klimawandel, den die Trump-Regierung so vehement bestreitet, für die Bewohner schmerzhaft spürbar

James „Ooker“ Eskridge steuert sein Boot, die „Sreedevi“, entlang einer Ausbuchtung der Küstenlinie. Die flache Insel ist schon ganz nah, ein paar Meter noch, dann stellt Eskridge den Außenborder ab und klettert an Land. Dort schlingt er die Vorleine um ein Metallrohr, das im matschigen Untergrund steckt. Seine Gummistiefel schmatzen bei jedem Schritt im feuchten braunen Schlick. Und knirschen, wenn er auf eine der unzähligen bleichen Muschelschalen tritt. Hier beginnt das Trümmerfeld von Canaan; dieses Dorf haben seine Bewohner schon um 1930 aufgegeben, als die Bucht ihnen immer näher rückte. Seither hat sich das steigende Wasser der Chesapeake Bay den gesamten Ort geholt. Häuser stehen hier längst nicht mehr, auch keine Bäume, aber überall liegen Überreste der Siedlung herum, immer wieder umdekoriert von Wasser, Wellen und Schlick. Eskridge hebt mit einem Stock eine schwere Metallöse an, legt eine kleine Glasflasche frei, klopft auf ein T-förmiges gusseisernes Teil, das einst der Fuß einer Nähmaschine gewesen sein könnte, weicht einem Betonzylinder aus, der wohl zu einem Brunnen gehörte. 

Uppards heißt die Insel. Niemand wohnt mehr hier, niemand kann mehr hier wohnen. Den Namen kennen praktisch nur noch die gut 450 Einwohner der Ortschaft Tangier auf Tangier Island, gleich gegenüber, auf der anderen Seite des kleinen Meereskanals. Tangier Island ist die einzige bewohnte Insel im zu Virginia gehörenden Südteil der lang gezogenen Chesapeake Bay. Die Insel wird immer kleiner, Wellen, Stürme und das steigende Wasser nagen an ihr. Von den ursprünglich fünf Dörfern Tangiers ist nur noch eines da, von den sieben Sandrücken mit Häusern hat sich die Bucht vier geholt. Wo es früher eine Brücke zwischen den Inselteilen Tangier und Uppards gab, braucht man heute ein Boot. 

Eskridge, ein Fischer – waterman, wie man hier sagt –, ist seit zehn Jahren Bürgermeister von Tangier. Auf der Insel nennen sie den 60-Jährigen mit dem grauen Schnauzer Ooker. Die niedlich-falsche Aussprache des Wortes rooster, Hahn, aus Kindertagen ist ihm als Spitzname geblieben. Welches Schicksal seiner Insel noch in seiner Lebenszeit droht, zeigt er Besuchern gern anhand der Ruinen von Canaan.

Am Rand des Trümmerfelds liegen weißeMarmorplatten. Es sind Grabsteine. Eine Frau namens Polly Parks wurde hier be- stattet, geboren am 19. Oktober 1876, gestorben am 1. Dezember 1913. Ihre Namenstafel ist zerbrochen und liegt im struppigen Gebüsch. Weiter hinten auf einem weiteren Grabstein: Nellie. Der Nachname klein darunter, wie man es bei einem Kind macht. Die beiden Daten rechts unten auf dem Stein sind kaum zu entziffern, Tasten mit den Fingern hilft. März 1893 bis Januar 1895. 

Besser zu erkennen ist der gleiche Grabstein auf einem Foto, das Carol Pruitt-Moore bei Facebook hinterlegt hat. Sie zeigt es den Besuchern auf ihrem iPad. Es ist im Spätherbst 2012 entstanden, als Hurrikan „Sandy“ die Insel gerade wieder losgelassen, die aufgepeitschte Bucht aber ein großes Stück von Canaan behalten hat. Damals konnte man Nellies Lebensdaten noch lesen.

Carol fährt oft mit ihrem Boot in das aufgegebene Dorf, um seine Geschichte zu dokumentieren. Das tat sie auch damals, nach „Sandy“. Doch was sie bei jenem Mal vorfand, war das reinste Chaos. Sie sah Skelette im Schlick liegen und einen Schädel, der in der Brandung rollte. Brecher hatten den Friedhof von Canaan überflutet. Carol rief die Behörden und eine Fernsehstation an. Die Presse berichtete über den grausigen Fund. Bald kam ein Trupp von Archäologen und barg die menschlichen Überreste.

Die Bewohner von Tangier bewegt seither die Frage, ob auch sie selbst irgendwann aus ihren Gräbern gespült werden.

Die Insel Tangier, wo kein Stück Land höher als 1,5 Meter über dem Meeresspiegel liegt, kämpft um ihre Zukunft. Der übliche Tidenhub von 40 Zentimetern stellt keine Bedrohung für die Insel dar; aber ein Sturm während einer Springflut treibt das Wasser auf die Straßen, durch die Zäune und unter die Fundamente der Häuser. Auf vielen Grundstücken verdrängt Marschgras den Rasen, an den tiefsten Punkten der Gärten gucken Winkerkrabben aus ihren Löchern. Manchmal schwimmen dort auch die Fische der Bucht.

Etwa 300 Hektar hat die Insel noch. Anfang des 20. Jahrhunderts war es doppelt, um 1850 dreimal so viel Fläche. Nur 35 Hektar sind bewohnbar. Jeder Hurrikan, wie zuletzt „Sandy“ 2012 oder „Isabel“ 2003, wird zur existenziellen Bedrohung. 

Auf der Insel wohnen viele Familien schon seit etlichen Generationen. Der Entdecker John Smith ging hier 1608 als erster Europäer an Land, 1686 kam die erste Siedlerfamilie an. Crockett war ihr Name, und weil sie acht Söhne hatte, heißen so heute noch viele Inselbewohner. Auch die Insulaner mit den Nachnamen Pruitt, Parks oder Dise können ihren Stammbaum über sechs, sieben, acht Generationen zurückverfolgen. 

Die Insel lebt vom Austern- und Krebsfang und ein wenig vom Tourismus. Sie hat ihre eigene Sprache, die nach England klingt und nicht nach Südstaatenslang. Der Akzent erinnert an das West Country English, viele frühe Siedler kamen aus Cornwall und anderen Regionen im Südwesten Englands. Es gibt zwei Kirchen, eine Schule, einen schmalen Strand. Eine Erbkrankheit wurde hier entdeckt, ein angeborener Mangel des HDL-Cholesterins; sie hat sich wegen der begrenzten Auswahl von Ehepartnern herausgemendelt. Und Tangier ist, so ironisch es klingt, ein dry island. Es gibt keinen Alkohol zu kaufen, so fromm sind sie hier. Religiöse Gründe waren es auch, die den Bürgermeister und seine Frau dazu veranlassten, nach zwei leiblichen Söhnen auch vier indische Waisenmädchen zu adoptieren. Sreedevi, deren Name das Boot des Vaters ziert, ist die jüngste.


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mare No. 132

No. 132Februar / März 2019

Von Christopher Schrader und Matt Eich

Christopher Schrader, Jahrgang 1962, Journalist in Hamburg, besuchte Tangier im Winter, als nur eine der drei Fähren in Betrieb war. Die Besatzung lud fast das ganze Deck, von dem um diese Zeit Eiszapfen herabhingen, mit Vorräten voll, darunter Dutzende Pakete mit übergroßen Limonadenflaschen.

Matt Eich, geboren 1986, Fotograf in Charlottesville, Virginia, fuhr kurz vor Halloween nach Tangier. Die Insulaner ließen sich trotz all der Sorgen nicht den Spaß nehmen. Auf einer Halloweenparty zogen die Gäste Ganzkörperkostüme an und errieten gegenseitig, welcher Nachbar sich wohl darunter befinde.

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Vita Christopher Schrader, Jahrgang 1962, Journalist in Hamburg, besuchte Tangier im Winter, als nur eine der drei Fähren in Betrieb war. Die Besatzung lud fast das ganze Deck, von dem um diese Zeit Eiszapfen herabhingen, mit Vorräten voll, darunter Dutzende Pakete mit übergroßen Limonadenflaschen.

Matt Eich, geboren 1986, Fotograf in Charlottesville, Virginia, fuhr kurz vor Halloween nach Tangier. Die Insulaner ließen sich trotz all der Sorgen nicht den Spaß nehmen. Auf einer Halloweenparty zogen die Gäste Ganzkörperkostüme an und errieten gegenseitig, welcher Nachbar sich wohl darunter befinde.
Person Von Christopher Schrader und Matt Eich
Vita Christopher Schrader, Jahrgang 1962, Journalist in Hamburg, besuchte Tangier im Winter, als nur eine der drei Fähren in Betrieb war. Die Besatzung lud fast das ganze Deck, von dem um diese Zeit Eiszapfen herabhingen, mit Vorräten voll, darunter Dutzende Pakete mit übergroßen Limonadenflaschen.

Matt Eich, geboren 1986, Fotograf in Charlottesville, Virginia, fuhr kurz vor Halloween nach Tangier. Die Insulaner ließen sich trotz all der Sorgen nicht den Spaß nehmen. Auf einer Halloweenparty zogen die Gäste Ganzkörperkostüme an und errieten gegenseitig, welcher Nachbar sich wohl darunter befinde.
Person Von Christopher Schrader und Matt Eich