Gold aus Biomüll

Aus Krabbenschalen gewinnt ein Labor in Büsum Chitosan – einen Rohstoff mit erstaunlichen Eigenschaften

„Siehst du“, sagte der Leinwandkrebs Sebastian, nachdem er die niedliche Nixe Arielle wieder einmal aus den Unbilden der Tiefsee errettet hatte, „siehst du, unsereins taugt zu viel mehr.“

Zu sehr viel mehr. Der Nutzen Sebastians und seiner Artgenossen könnte demnächst sogar alles Vorstellbare sprengen. „Wir stehen am Rande einer schönen neuen Welt“, jubelt Professor Sam Hudson, Experte für polymere Chemie an der Carolina State University. Der Grund ist die knackige Hülle der Krustazeen, ihr Panzer aus Chitin. Chemisch gesehen besteht es aus Zuckerbausteinen, dazu etwas Stickstoff. Wirtschaftlich, medizinisch und umwelttechnisch betrachtet aber wirkt das Riesenmolekül geradezu gigantisch. „Wenn man alle Möglichkeiten des Chitins nutzen kann, wird es für das globale System so bedeutsam wie Öl“, prophezeit Professor Hudson.

In einigen Jahren könnten die Krebs-Hülsen beispielsweise den stetig knapper werdenden Rohstoff Zellulose ersetzen. Schon jetzt gewinnt man aus ihnen nicht nur äußerst reißfestes und praktisch ewig lagerfähiges Papier. Auch Textilfasern, Gele und Folien lassen sich mittlerweile daraus herstellen.

Im Gegensatz zu der rarer werdenden, weil vorzugsweise aus Bäumen gewonnenen Zellulose aber ist das Chitin überreichlich vorhanden. Auf rund 100 Millionen Tonnen wird der rasant nachwachsende Rohstoff allein aus Hummerhaut und Krabbenkruste geschätzt. Nicht eingerechnet also die landlebenden Insekten, Kriechtiere oder Pilze, gleichfalls chitinbewehrt, doch produktionstechnisch noch kaum nutzbar. Noch: Zur Gewinnung von Chitin aus den Eiern, Larven oder Körpern von Floh und Fliege etwa gibt es bereits viel versprechende Verfahren. Wäre sie in großem Maßstab nutzbar, stiege die verfügbare Reserve an dem „Holz der Tiere“ ins Unermessliche.

Das sollte reichen, um auch die anderen Segnungen der tierischen Wunderrüstung zu erfahren, etwa jene in der Medizin, der Kosmetik oder Umwelttechnik. Es gibt biologische Pflaster, die sich über schlimmste Brandwunden legen, bis neues, nahezu unvernarbtes Gewebe gewachsen ist – und die sich dank der körpereigenen Enzyme nach vollendeter Arbeit einfach auflösen. Anders bei Kontaktlinsen: Deren Verbindung mit dem Chitin machen sie gerade besonders beständig, dabei jedoch unerhört dünn, biegsam und augenverträglich. Die Besonderheit des Chitins, je nach Zusatzstoff oder Verarbeitung völlig veränderte, manchmal gegenteilige Eigenschaften anzunehmen, zählt zu seinen bemerkenswertesten Vorzügen.

Chirurgisches Nahtmaterial aus Chitin gehört in ostasiatischen Operationssälen längst zur Standardausrüstung. Seriöse Studien lassen zudem auf eine Wirkung chitinhaltiger Arzneien zur Verringerung des Darmkrebsrisikos schließen, ähnliche Hoffnungen wecken einschlägige Medikamente im Kampf gegen das Cholesterin, gegen Magengeschwüre oder zur Stabilisierung der Blutgefäße. Chitinpräparate lassen das Blut schneller gerinnen, machen die Schleimhäute durchlässiger für medizinische Sprays oder wirken gegen den krankhaft erhöhten Fettspiegel. In diesem Zusammenhang sorgen neuerdings so genannte „Fettfallen“ für öffentliches Interesse – Kapseln mit Chitosan, einem wasserlöslichen Derivat des Chitins, welche die Dickmacher wie ein Schwamm aufsaugen können. Entsprechende Diätmittel werden seit kurzem auch in Deutschland beworben, allerdings sind sie mit Vorsicht zu genießen: Mit dem unverdauten Fett rauschen auch die darin löslichen Vitamine in den Lokus, verlässliche Studien zu weiteren Risiken fehlen noch. Bedenkenlos kann man dagegen seine Füße mit einem Gel gegen Schweißgeruch einreiben, entsprechend imprägnierte Socken sind in Japan und den USA längst auf dem Markt.

Auf der Liste der Produkte und Patente, in denen der harte Harnisch von Krebs und Co. eine Rolle spielt, stehen mittlerweile fast alle wirtschaftlichen Bereiche. In der Landwirtschaft wird mit Chitin-Zusatz Saatgut konserviert, in der Molke ist Chitin ein tierischer Appetitanreger, auf dem Kompost beschleunigt es die Zersetzung. Mit seiner Fähigkeit, negative Ionen zu binden, werden Abwässer gereinigt, Schwermetalle aus dem Boden gezogen, werden Bakterien und Viren sterilisiert. Lacken und Farben wird der umweltverträgliche Zusatzstoff beigemischt, vor allem die giftigen Bootsanstriche könnte er so bald entschärfen. Chitin ist in Haarsprays und Cremes ebenso zu finden wie in Elektronenmikroskopen oder Lautsprechermembranen. Vor allem das Chitosan drängt dabei immer mehr in den Vordergrund. Wird von der langen Molekülkette des Chitins ein Zipfel Essigsäure abgeknipst, erhält man das wasserlösliche Derivat. Die hellgrauen Flocken sind sozusagen veredeltes Chitin, in den beschriebenen Anwendungen geht fast nichts ohne den feuchtigkeitsbindenden, ungiftigen und antiallergischen Superstoff.

Kein Wunder also, dass in Japan die Panzer der Krustazeen bereits eine ganze Industrie tragen. Deren Umsatz verpasste im letzten Jahr nur knapp die Milliardengrenze. Zahlreiche Symposien und Projekte in aller Welt haben nur ein Thema: Chitin und seine wirtschaftliche Anwendbarkeit. In Japan gehört das Chitin – hinsichtlich alternativer Rohstoffe – seit Mitte der Neunziger zu den drei finanziell am stärksten unterstützten Forschungsgebieten. In den USA gründeten sich in den letzten drei Jahren mehr als hundert Firmen, die ihr Kapital mit Chitin und Chitosan mischen. In der Bundesrepublik, immerhin, werden seit einiger Zeit auch nicht mehr alle Krabbenschalen an die Fische verfüttert.

Deutschlands „schöne neue Welt“ beginnt gleich hinterm Deich, in einer Halle der Büsumer „Gesellschaft für Sicherheit und Recycling“. Hier werkelt der Seniorchef, der Chemie-Professor Hans Mueller von der Haegen, an der bislang einzigen Chitosan-Anlage der Republik. Einem Backautomaten ähnlich veredelt das rumpelnde Ungetüm mittels Säuren und Laugen die Reste der heimischen Wattkrabben zu dem revolutionären Stoff. Einem Stoff, der auch für den Professor vor noch knapp zehn Jahren nicht mehr als eine moderne Legende war.


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mare No. 27

No. 27August / September 2001

Von Maik Brandenburg und Axel Martens

Maik Brandenburg ist mare-Redakteur für „Reise und Genuss“. In Heft 21 schrieb er über die wirtschaftliche Bedeutung der Seepferdchen

Auch Fotograf Axel Martens arbeitete für mare zuletzt am Seepferdchen. Allerdings handelte es sich um das gleichnamige Restaurant auf Sylt (Heft 25)

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