Glückseligkeit im Uterus

Warum Segler segeln? Weil’s schaukelt wie in Mamas Bauch

Ich habe sie immer in Verdacht gehabt: Wie sie dasitzen und mit glänzenden Augen von ihren Erlebnissen erzählen, von Sonnenuntergängen, der endlosen Weite, den Stürmen und anderen Widrigkeiten, wenn sie von springenden Delfinen und der Einfahrt in nächtliche Yachthäfen schwadronieren, von der Freiheit und all den anderen berauschenden Lebensgefühlen, glauben sie tatsächlich, dass sie damit das Ausmaß ihrer Emotionen vollständig umschrieben haben. Was sie nicht glauben wollen, die Segler mit ihrer ledrigen Haut, ihrem gesunden Teint und den goldenen Härchen auf den sehnigen Armen, ist eigentlich so banal, dass es fast schon unverschämt ist: Es sind alles nur infantile Gefühle, pränatale Glückseligkeit. Ausgelöst durch ein einziges physikalisches Phänomen - das Schaukeln.

Zu banal? Ich habe es ausprobiert. Dies einen Selbstversuch zu nennen wäre übertrieben. Aber eine Erfahrung war es schon. Dabei war es noch nicht einmal eine schicke Yacht, die mich in einen kindlichen Zustand der Unbesorgtheit versetzte, und schon gar nicht ein bezauberndes Insel-Idyll in pazifischen Gewässern, sondern eine Viertagesfahrt auf einem abgehalfterten Containerschiff in der uninspirierendsten aller Gegenden: einer Wasserstraße auf der Nordsee.

Das ewige Neonlicht war grauenvoll, der Geruch von Öl - Maschinenöl und mehrfach gebrauchtes, durchdringend stinkendes Fett in der Kombüse - penetrant, die Apathie der heimwehkranken und unterbezahlten kiribatischen Matrosen deprimierend. Von Seefahrerromantik konnte keine Rede sein.

Sicher, die ganze Atmosphäre hat mich aufgewühlt. Die Gewalt der Maschine, ihr ununterbrochenes Vibrieren, der Blick von der Brücke hinunter auf das lange, schlanke Schiff, das offene Meer vor mir, das hysterische, kühle Tuten der Sirene während des nächtlichen Motorschadens, die bunten Container, der Gedanke an ihren unbekannten Inhalt, all das lässt einen nicht kalt. Aber da war noch mehr.

Denn nach einem halben Tag setzte etwas ein, was ich bislang so nicht kannte: eine schnell sich ausbreitende Bedürfnislosigkeit, eine Reduktion auf das Allernotwendigste: Liegen, Gucken, Essen, Schlafen. Liegen, Gucken, Essen, Schlafen.

Am zweiten Tag ging es so weiter, nur dass ich auch noch die ästhetischen Ansprüche an mich selbst und die Umwelt auf ein Minimum herunterschraubte: Schminken? Haare kämmen? Wozu? Das Licht über dem Spiegel in der kleinen Dusche, die ich mit einem dicken Polen teilte, der gerne mal die Klospülung zu betätigen vergaß, war alles andere als vorteilhaft. Aber Anlass zur Verzweiflung war das nicht. Ich lag nachts wie ein zufriedenes Baby in meiner ärmlichen Kabine, schaute an die Decke, rötliches Licht schimmerte durch die Fensterluke herein, ich hörte ferne Stimmen und war dick und warm in meine Decke gemummelt. Es schaukelte sacht, in der zweiten Nacht stärker, ich ging mit der Bewegung mit, hin und her, hin und her.

Am dritten Tag sah ich aus wie alle anderen: im immergleichen Sweatshirt mit Fettflecken der Pommes von vorgestern drauf, und das ohne alle Scham. Kindern ist es völlig gleichgültig, ob ihre Hemdchen dreckig sind. Mir war es das auch.

Nach meiner Reise stieß ich auf Untersuchungen, die meine Vermutungen bestätigten, Segeln mache blöd und anspruchslos - oder netter gesagt: zufrieden und frühkindlich selbstgenügsam. Das Geheimnis liegt im Innenohr. Die Stimulation des Gleichgewichtsorgans löst Glücksgefühle aus und lässt die körperliche Entspannung eintreten. In Deutschland schicken Psychologen depressive Patienten auf Segeltörns, und die Universität von Rochester in den USA veröffentlichte letztes Jahr eine Studie über die positive Wirkung von ausgiebigem Schaukeln. Die Insassen eines Alterspflegeheims waren die Probanden, der gewöhnliche Schaukelstuhl das Mittel der Untersuchung. Depressionen, Wut, Angstzustände reduzierten sich erheblich. Alte Menschen, deren Verzweiflung über ihre Situation so groß war, dass sie Stunden weinend in einem gewöhnlichen Stuhl saßen, weinten 70 Prozent weniger, wenn sie sich in einen Schaukelstuhl setzten. Diese Wirkung tritt allerdings nur ein, wenn täglich mehr als 80 Minuten geschaukelt wird.

Seit Ewigkeiten wird das so gehandhabt: Das Nichtgeborene wird im warmen Fruchtwasser durch die Welt geschaukelt, das Baby liegt in der Wiege, das Kind schwingt auf dem Schaukelpferd hin und her. Die Kindheit - ein einziger großer Schaukelstuhl. Erst im Alter erinnert man sich wieder an die satte Zufriedenheit der Kindertage, und die klugen Alten sitzen strickend, lesend oder sinnierend in ihren Schaukelstühlen. Alle sind dabei wunschlos glücklich.
Segeln ist infantil - aber das macht nichts. Wenn sie's denn nur zugeben würden, die Segler.

mare No. 26

No. 26Juni / Juli 2001

Eine Polemik von Zora del Buono

Zora del Buono ist mare-Kulturredakteurin

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