Gestalten aus der Tiefe

Das „Buch der Wale“ präsentiert dem staunenden Leser anno 1585 allerhand Sprühfische, Seeböcke und Sirenen

Fische sind die ältesten lebenden Wirbeltiere, seit mehr als 400 Millionen Jahren bewohnen sie den Planeten Erde. Bevor der Mensch geboren wird, ist er selbst ein schwimmendes Fischlein. In seinem Unterbewusstsein schleppt er seine Stammesgeschichte mit sich, auch eine vage Erinnerung daran, dass er seinen Ursprung dem Meer verdankt. Alte Mythen von Seeungeheuern und Meerjungfrauen geben darüber Auskunft.

All dies mögen Gründe dafür sein, warum es immer wieder Leute gibt, die ihr Leben in den Dienst der schwimmenden Kaltblüter stellen. Lange vor Marcus Elieser Bloch, der im 18. Jahrhundert die moderne Ichthyologie begründet hat, tat dies der Holländer Adriaen Coenen (1514-1587). Coenen schrieb und bebilderte zwei Bücher über Wale und eines über Fische, insgesamt mehr als 500 Manuskripte, die heute bei der Zoologischen Gesellschaft von Antwerpen aufbewahrt werden.

Mit seinem Forscherdrang ist Coenen ein Mann seiner Zeit. Anders als der typische Renaissancegelehrte ist er nicht bei Hofe angesiedelt, er hat auch keinen Mäzen. Coenen ist Fischer von Hause aus, später arbeitet er als Auktionator auf dem Großmarkt von Scheveningen und kommt als Dorfvorstand zu Ehren. Seine Studierstube sind die Märkte und Kneipen, sein Wissen sammelt er in der Begegnung mit Seefahrern, Abenteurern und Händlern. Coenen reist wenig, er bevorzugt ausgedehnte Strandspaziergänge mit seinem Notizbuch in der Tasche. Der Mann geht unbekümmert zu Werke. Seine Bildtexte schreibt er auf Niederländisch, da er die Volksschule besucht und kein Latein gelernt hat.

Coenens kleine Aufsätze zum Thema Fisch bestechen durch ihre bildhafte, direkte, manchmal auch derbe Sprache. Coenen erzählt immer die ganze Geschichte, wer einen Fisch wo gesichtet, gefangen oder gegessen hat - zu den Fischen zählt er übrigens auch Wale, Delfine und Sirenen. Der Pastetenbäcker von Scheveningen ist für Coenen eine ebenso zuverlässige Quelle wie der römische Dichter Plinius. Wenn er keine findet, verfasst Coenen selbst kurze Beschreibungen.

Coenen fertigte seine Zeichnungen mit Wasserfarben. Sie gelten heute als künstlerisch weniger wertvoll - jedenfalls, wenn man sie im Kontext der niederländischen Renaissancemalerei betrachtet. Dennoch sind die Bilder ausdrucksstark und so präzise, dass man die Spezies identifizieren kann. Das ist umso bemerkenswerter, als eine verbindliche Nomenklatur zu Coenens Zeit nicht vorhanden war; die musste noch zwei Jahrhunderte auf den Schweden Carl von Linné warten.

Coenens Meertierfibel erscheint unter dem Titel „The Whale Book. Whales and other marine animals as described by Adriaen Coenen in 1585" bei dem Verlag Reaktion Books in London.


Über große Schildkröten und Schnecken

Im Indischen Ozean sind die Panzer der Schildkröten so groß, dass man daraus Häuser und Boote baut. Sie werden überall gefangen. Die Leute essen die Schildkröten sogar, sie geben ein gutes Fleisch, das nach Kalb schmeckt.

Man fängt die Schildkröten auf mancherlei Art, am besten, wenn die Mittagssonne sie nach oben treibt und wenn sie mit ihrem ganzen Rücken an der Oberfläche schwimmen. Das Sonnenbaden und die frische Luft unter blauem Himmel genießen sie so sehr, dass sie alles andere vergessen, ihr Panzer trocknet in der Mittagshitze derart aus, dass sie nicht mehr sinken können. Also schwimmen sie vor sich hin und sind leichte Beute, sogar mit der Hand kann man sie fangen. Sie legen Eier ab, die so groß sind wie Vogeleier, ungefähr hundert Stück an der Zahl, sie bestäuben sie an Land mit feinem Sand. Sie brüten sie aus, indem sie des Nachts darauf sitzen.


Stechrochen

Die Fischersleute unserer heimischen Küste von Holland kennen den Stechrochen gut. Im Sommer fängt man ihn mit anderen Fischen im Netz. Dieser Fisch wird hier zu Lande nicht gegessen. Unsere Fischer werfen ihn weg, aber sie behalten die Leber, aus der sie ein Öl gewinnen, das gebrochenen oder aufgeschürften Gliedern gut tut. Weil heutzutage alle Fische mehr Geld einbringen und alles teurer geworden ist, gibt es auch viele arme Fischersleute, die diese Stechrochen trocknen und essen. Die Fischhändler bringen sie jetzt auf den Markt.

Sie schneiden den Schwanz mit seiner Speerspitze ab, wie hier gezeigt wird, und verkaufen sie. Wer es nicht besser weiß, denkt, es sei ein Rochen.


Der Wal von Egmond

Dies ist das Bild eines Fisches, der in Egmond am 8. Mai 1547 strandete. Der Fisch lag auf dem Rücken, sein Bauch zeigte nach oben. Der Bauch war gefleckt, mit weißen und schwarzen Sprenkeln, der Rücken war schwarz. Von einem Kiefer zum anderen maß er 16 Fuß, und die Kiefer waren 10 Fuß breit; vom Bauchnabel bis zum Schwanz war er 25 Fuß lang, die Schwanzflosse war 16 Fuß breit. Der ganze Fisch war 75 Fuß lang und 38 Fuß breit. Vom Auge bis zur Nase maß er 14 Fuß, und vom Auge zur Flosse 6 Fuß. Die Flosse hatte ein Spann von 6 Fuß.


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mare No. 42

No. 42Februar / März 2004

Von Tanya Lieske

Tanya Lieske, Jahrgang 1964, ist Journalistin und Literaturkritikerin.

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Vita Tanya Lieske, Jahrgang 1964, ist Journalistin und Literaturkritikerin.
Person Von Tanya Lieske
Vita Tanya Lieske, Jahrgang 1964, ist Journalistin und Literaturkritikerin.
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