Gescheitert

Nach der Strandung an der Küste folgt die zweite in den Armen der Retter

Der Sturm da draussen hat dich abgeworfen. Schirm und Schale sind zerschlagen. Dein Schiff schwankt auf dem Riff wie ein verirrter Wal. Aufgeschlitzt, zum Ausweiden freigegeben. Was dich getragen hat, ging zu Bruch.

Nach langer Reise warst du müde, ein kindischer Trotz hat dich übermannt. Du hattest die Warnung gehört. Der Sturm nahte, du hättest beidrehen müssen. Aber du wolltest deinen Kurs halten. Ausgeschaltet, Pech gehabt.

Du bist in keinem Endspiel gescheitert, keinem Konkurrenten unterlegen, keinem Rivalen und auch nicht auf deiner Hochzeitsreise verunglückt. Du wolltest nichts erforschen oder beweisen. Wolltest Kurs halten.

Kein Kostüm, keinen Koffer mehr. Kein Titel, kein Karrierekorsett hält dich noch zusammen. Im letzten Hemd stecken keine Papiere. Außer Wasser und Sand nichts Liquides. Du liegst auf dem Strand. Der einzige Kredit ist der weiche Boden unter den Füßen. Das Meer hat dich dem Wrack entrissen, dich ausgespien mit Spülsanden und Treibgut, herausgependelt, dich niedergestreckt.

Du hängst an keinem Geländer mehr, bist von dem Gewicht der Welt befreit, mit dem du versinken solltest. Aus dem Chaos der tausend Ordnungen hinausgeschleudert zurück ins Ungeordnete aus Wasser, Erde, Licht und Luft. Kein Schaumgeborener entsteigt dem Meer, ein bloßes Wesen zwischen Vogel und Fisch kniet da vor dem Leben.

Der Wind ist eingeschlafen. Eins mit dem Spiegel aller Meere, in dem sich die Gebirge der Tiefe und die Sternenfelder brechen. Am Fuße des herrenlosen Himmels, über dem First der Hölle. Wieder am absoluten Nullpunkt. Dort, wo alle gleichgemacht sind und der Ausgang offen ist. Tabula rasa: Der Tisch ist gedeckt mit blanker Leere, nichts ist aufzuräumen. Du ruhst am Saum der Gezeiten. Seegras im Haar.

Das Meer hat dich über Wasser gehalten, dein Herz schlägt noch. Schlägt im Takt der weicher brechenden Wellen. Ihr Hall brandet in den Ohren. In den Muscheln das Rauschen eingeschlafener Winde. Das Blut spült durch vergessene Höhlen des Hirns. Helle Küsten aus kinderleichten Jahren kommen in Sicht. Du könntest zurückfinden.

Da nahen sie schon, die Welt ist klein, betasten dir Haut und Haar, prüfen deinen Puls, zupfen dir die Lider, drehen dich, wenden dich. Du widerstrebst, willst schreien. Doch du bist matt, es reicht zu keiner Träne. Zum Sterben ist es jetzt zu laut. Totstellen? Deinem Kopf gelingt noch keine List, deinem Körper keine Lüge. Deine Retter wollen dich lebendig, bedecken dich, tröpfeln dir Wasser ein, heben dich auf eine Trage, behutsam wie eine Moorleiche, machen ihr Kreuz, stemmen dich hoch aufs feste Feste. Du siehst Mauern, Dächer, Fenster, Türen. Doch noch ordnet sich nichts. Landluft löst dir die Zunge. Du stammelst, kaust an einem ersten Wort. Nein. Im Geraune der Zaungäste verschluckt es sich.

Tage in einem schattigen Zimmer. Unter weiße Tücher gestreckt, von straffen Gewändern umstrichen und versorgt, zerrt an dir langsam die Welt der Zwecke und Bequemlichkeiten. Nachgeben? Auftauchen? Wieder absinken? Durch das Fenster dringt das Meer, sein mahlendes Stranden, seine ewige Litanei von Wachsen, Sterben und Gebären. Sein heiterer Schmerz, wo es endet. Gesänge für Worte zu schwer und zu schwebend.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 9. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 9

No. 9August / September 1998

Ein Essay von Uwe Wandrey

Uwe Wandrey lebt als Buchautor und Reisejournalist in Hamburg. In mare No. 8 schrieb er über die Physik des Sandstrandes

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Vita Uwe Wandrey lebt als Buchautor und Reisejournalist in Hamburg. In mare No. 8 schrieb er über die Physik des Sandstrandes
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