Generation Sushi

Japaner essen Fisch gern roh, und Europäer finden das schick. Warum nur? Selbstversuch eines überzeugten Vegetariers

Der Auftrag kam kurz vor meiner Abreise nach Marokko. Ich nahm ihn an, was meine Freundin sehr wunderte, denn sie versuchte es seit einem Jahr – so erfolglos, wie es meine Mutter versucht hatte, zahlreiche Insulaner ebenso: Probier doch bitte mal diesen Eiweißschock. Sie rannten gegen Beton, alle. Phobien überwindet man nicht mit Nettigkeiten, auch nicht mit Gewalt. Man könnte sie vielleicht wegtherapieren, aber bis das klappt, bin ich uralt. Ich bin 51. Ich bin geborener Vegetarier. Seit einem halben Jahrhundert esse ich weder Fisch noch Fleisch. Es hat nichts mit Religion zu tun. Ich will auch nicht gesünder leben. Tierliebe? Klar liebe ich Tiere. Was Haare und Federn hat, ist mir willkommen, Schuppenträger leider nicht. Ich finde sie nicht hässlich, im Gegenteil, ihre Farben, ihr Schillern, die Art, wie sie sich bewegen. Solange sie leben. Tote Fische finde ich widerlich. Niemals möchte ich einen in die Hand nehmen. Ich schaue sofort weg, wenn einer auf dem Tisch liegt, am liebsten würde ich gehen.

Charlottenburg ist ein Dorf in Berlin. Fast 15 Grad, fast Sonnenschein. Ein schöner Tag zum Sterben. Ein schöner Tag für Fisch. Besser: ein schöner Abend. Warum tue ich mir das an? Weil 1. Für Geld tue ich alles. Man ist halt noch nie auf die Idee gekommen, mich dafür zu bezahlen. 2. Es ging nicht um Fisch. Es ging um Sushi. Der Japaner mit seiner Liebe zum Abstrakten hat den Fisch vollendet unkenntlich gemacht. Zudem sei roher Fisch geruchs- und geschmacksneutral. Meine Begleitung hätte nichts Dämlicheres sagen können. Ich wollte die Aktion sofort stoppen. Tat es aber nicht. Roher Fisch?

„Kuchi“, Kantstraße. Kleiner Laden. Immer voll. Gute Musik, gute Models. Gut im Sinne von MTV. Die Männer kleiden sich wie Rapper oder Börsenmakler, die Bedienung ist strikt asiatisch und deutlich unter 30, die Einrichtung modernes Pan Asia. Wir bekommen Plätze an einem Tisch mit einer Gruppe, in der mir eine Frau bekannt vorkommt, ich weiß nur nicht, woher.

„Ich schlage vor, ich bestelle die vegetarischen Sushi und ihr die echten“, sage ich zu meinen Begleitern, „und dann probier ich mal bei euch.“ Außerdem bitte ich sie, mir nicht zu verraten, was sie bestellen. So genau will ich es nicht wissen. Auf den Tisch kommt ein Ensemble von grünen und roten Röllchen in doppelter Fingerhutgröße. Eingerollt in eine Art Gemüse, versteckt im Reis. Außerdem meine Portion inaktives Sushi (mit Gurkeneinlage). Schnell mal was essen, ohne zu würgen. Übertrieben? Vegetarier werden mich verstehen, alle Nichtvegetarier stellen sich jetzt bitte vor, sie müssten Spinnen kauen oder Ratten.

„Du solltest vorher ein Tässchen warmen Reisschnaps trinken“, sagt mein Begleiter. Ich trinke zwei. Es ist die Konsistenz. Fisch fühlt sich beim Kauen anders an als alles andere. Beim ersten Röllchen schlage ich die Hände vors Gesicht, um die Grimasse zu verdecken. Beim zweiten habe ich gelernt und kaue nicht, sondern schlucke das Sushi wie etwas Glitschiges weg. Und spüle mit zwei Tässchen Sake nach. Schweißausbruch. Der Blick auf andere Gäste hilft. Sie essen mehr oder weniger das Gleiche wie ich, und keiner sieht abnorm aus. Oder arbeitslos. Ganz normale Leute essen Fisch. Börsenmakler, Ecstasy-Dealer, Website-Anbieter, Schriftstellerinnen am Rande des Nervenzusammenbruchs, auch Mannequins und Stewardessen. Alle dünn, auf Zack und unter 30. Bis auf die Schriftstellerin. Ist Sushi eine Jugendsekte?


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mare No. 38

No. 38Juni / Juli 2003

Von Helge Timmerberg und Marc Latzel

Helge Timmerberg, geboren 1952, hätte beinahe schon einmal Sushi gegessen – auf Einladung des Chefs einer japanischen Yakuza-Bande. Wie er damals gerade noch darum herumkam, steht in seinem Buch Tiger fressen keine Yogis, erschienen 2002 im Solibro-Verlag, Münster.

Der Schweizer Marc Latzel, Jahrgang 1966, studierte am Winterthurer Konservatorium Perkussion, ehe er sich der Fotografie zuwandte. Heute ist er Mitglied der Zürcher Agentur Lookat.

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Vita Helge Timmerberg, geboren 1952, hätte beinahe schon einmal Sushi gegessen – auf Einladung des Chefs einer japanischen Yakuza-Bande. Wie er damals gerade noch darum herumkam, steht in seinem Buch Tiger fressen keine Yogis, erschienen 2002 im Solibro-Verlag, Münster.

Der Schweizer Marc Latzel, Jahrgang 1966, studierte am Winterthurer Konservatorium Perkussion, ehe er sich der Fotografie zuwandte. Heute ist er Mitglied der Zürcher Agentur Lookat.
Person Von Helge Timmerberg und Marc Latzel
Vita Helge Timmerberg, geboren 1952, hätte beinahe schon einmal Sushi gegessen – auf Einladung des Chefs einer japanischen Yakuza-Bande. Wie er damals gerade noch darum herumkam, steht in seinem Buch Tiger fressen keine Yogis, erschienen 2002 im Solibro-Verlag, Münster.

Der Schweizer Marc Latzel, Jahrgang 1966, studierte am Winterthurer Konservatorium Perkussion, ehe er sich der Fotografie zuwandte. Heute ist er Mitglied der Zürcher Agentur Lookat.
Person Von Helge Timmerberg und Marc Latzel