Gemeinsam sind wir stark

Kollektives Vorgehen bringt individuelle Vorteile. Die Schwarmbildung von Fischen

Die ersten Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg zum Korallenriff. Mit ihnen scheint das Leben zu erwachen. Horden unzähliger bunt gefärbter Fische drängen sich ausgelassen um die Öffnungen der Höhlen und Spalten, die ihnen während der Nacht Schutz gewährten. Vorsichtig lugen erste kleine Gruppen aus ihrem Versteck hervor. Silberne Körper blitzen in den frühen Strahlen des neuen Tages. Stetig steigt ihre Zahl bis in die Tausende, die in den Nischen und Spalten hin und her ziehen, umgeben von ihren Räubern, die über dem Riff lauern. Immer unruhiger werden sie, bis sie die Herausforderung ihrer gierigen Feinde annehmen. In dichten Schwärmen brechen sie plötzlich ins freie Wasser. Ein atemberaubender, graziler Tanz der Massen beginnt.

Für viele Fische ist der Zusammenschluss mit ihren Artgenossen der Schlüssel zum Überleben, sei es in lockeren Verbänden oder in streng organisierten Schulen. Einige Arten versammeln sich in kleinen Gruppen von nicht mehr als einem halben Dutzend, sind nur über wenige Tage oder Wochen im Jahr zusammen. Andere verbringen fast ihr gesamtes Leben in dichten Schulen von Tausenden ihrer Gefährten, sind ohne sie gar hilflos: Der einzelne Hering, von seiner Gruppe getrennt, wirkt verstört und desorientiert, sind doch die Schwärme, in denen er sich in der Ostsee bewegt, bis zu 20 000 Tiere stark. Die Tiere sind dabei in den Schwärmen so dicht gedrängt, dass sie sich fast aneinander reiben.

Doch eben nur fast. Fische in Schwärmen vermeiden jede Berührung. Ihre Bewegung, die für das Überleben aller entscheidend ist, würde zu sehr behindert. Alle Tiere halten einen nahezu gleichen Abstand und führen alle Bewegungen gleich aus. Körperkontakt als Bestandteil des Sozialverhaltens wie bei Walfamilien gibt es nicht.

Um die Formation des Fischschwarmes zu koordinieren, kommunizieren die Fische auf verschiedene und faszinierende Weise miteinander. Ein besonderes Sinnesorgan auf ihrer Haut, an beiden Flanken des Körpers, ermöglicht es ihnen, die Bewegungen anderer Fische zu spüren. Dieses sogenannte Seitenlinienorgan reagiert auf geringste Druckveränderungen im Wasser, die durch die Schwimmbewegungen benachbarter Tiere verursacht werden. Einige verlassen sich zudem auf Sichtkontakt und ändern in charakteristischer Weise die Farbe und Muster ihrer Haut, um Nachrichten zu signalisieren. Andere verständigen sich durch elektrische Impulse, die in spezialisierten Muskeln erzeugt werden. Und wieder andere unterhalten sich in einer ihnen eigenen Sprache aus Klicklauten, Grunzen und Knurren; letzterem verdankt der Knurrhahn unserer nordischen Meere seinen Namen.

Die gleichgerichteten Aktivitäten eines Schwarmes, etwa eine schnelle Wendung, werden oft von dem zufällig voranschwimmenden Fisch gesteuert. Durch sein Verhalten signalisiert dieses Einzeltier, ergiebiges Futter, gefährliche Feinde oder geeigneten Unterschlupf gesichtet zu haben. Wie eine Welle verbreitet sich die Nachricht in Sekundenschnelle von Tier zu Tier und beeinflusst so den gesamten Verband. Bei vielen Fischen des offenen Meeres gibt es keinen vorbestimmten Führer. Wie viele Vogelschwärme sind sie in anonymen Verbänden egalitär organisiert.

Denn viele Arten entlassen in wildem Treiben, inmitten stürmischen Drängens und Windens von Weibchen und Männchen, zahllose mikroskopisch kleine Spermien und Eier einfach ins Wasser, die ihren Weg zueinander finden. Danach überlassen die Schwarmfische ihre Brut den Strömungen in den Weiten des Meeres. Die Verdriftung mit den unterschiedlichen Strömungen macht es höchst unwahrscheinlich, dass Fische in großen Schulen miteinander verwandt sind. Sozialgefüge und Rangordnungen wie etwa bei den Mitgliedern von Löwenrudeln oder Walfamilien, die zumindest Cousins oder Cousinen sind, entfallen.

Nicht immer folgt der Verband dem ersten Einzeltier. Erst wenn die Mehrheit wendet, folgt der restliche Schwarm. Merkt der Einzelgänger, dass ihm niemand folgt, schert er wieder brav in seinen Verband ein. Das Zentrum dieser Verhaltenssteuerung liegt offenbar im Großhirn der Fische. Bei seiner Erforschung stießen die Wissenschaftler während eines Experimentes unversehens auf einen ungewöhnlichen Trieb zur Geselligkeit der Tiere: Bei einer Elritze entfernten sie einen Teil des Großhirns. Nachdem das Tier zurück in seinen Schwarm gesetzt wurde, konnte es normal schwimmen und fressen, verlor aber sein typisches Schwarmverhalten – es folgte nicht mehr seinem Verband, sondern schwamm in eine andere Richtung. Nach einiger Zeit avancierte das operierte Tier zum Führer der Gruppe, der ganze Schwarm folgte dem zum Einzeltier umprogrammierten Fisch, getäuscht von dessen „Hartnäckigkeit“.

Nicht alle Schwärme sind egalitär. Insbesondere Schulen solcher Arten, die ein festes Territorium beanspruchen, zeigen feste Hierarchien. Einige Individuen, gewöhnlich ein oder mehrere größere Männchen, stehen an der Spitze einer Hackordnung. Dabei kann es zu bemerkenswerten Beispielen von Geschlechterrollen kommen: Schulen der bunt gefärbten Fahnenbarsche bestehen aus orange-rot gefärbten Weibchen und violett-purpur gezeichneten Männchen. Aus den Eiern dieser Art schlüpfen stets nur Weibchen. Während ihrer Entwicklung schließen sich die Jungtiere einem überwiegend weiblichen Schwarm an, wo sie an unterster Rangordnung stehen. Einige große Weibchen dominieren die Gruppe, über ihnen führt eine Handvoll Männchen das Regime. Solange die Gruppe stabil bleibt, bleibt auch das Rollenverhalten der Mitglieder erhalten. Stirbt aber eines der Männchen, wechselt das Geschlecht des stärksten Weibchens: Binnen zweier Wochen ändert es seine Färbung, sein Verhalten, und seine Geschlechtsorgane haben sich zu voll funktionsfähigen männlichen gewandelt. Wie diese Veränderungen ausgelöst und gesteuert werden, bleibt den Wissenschaftlern allerdings weiterhin ein Rätsel.


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mare No. 6

No. 6Februar / März 1998

Von Frank J. Jochem und Jeffrey L. Rotman

Frank J. Jochem, geboren 1961, ist promovierter Meereskundler. Seit April 1997 ist der in Kiel lebende Wissenschaftler Autor und Wissenschaftsredakteur bei mare.

Jeffrey L. Rotman, geboren 1949 in Boston, zählt zu den bekanntesten Unterwasser-Fotografen. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter fünf Kinderbücher, und seine Artikel erschienen unter anderem in mare No. 4, Life, Time, New York Times und Geo. 1995 gewann er den Preis „Bild des Jahres“ der amerikanischen National Press Photographers Association.

In mare No. 4 stellten die Autoren bereits die Vielfalt von Fischmäulern vor.

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Vita Frank J. Jochem, geboren 1961, ist promovierter Meereskundler. Seit April 1997 ist der in Kiel lebende Wissenschaftler Autor und Wissenschaftsredakteur bei mare.

Jeffrey L. Rotman, geboren 1949 in Boston, zählt zu den bekanntesten Unterwasser-Fotografen. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter fünf Kinderbücher, und seine Artikel erschienen unter anderem in mare No. 4, Life, Time, New York Times und Geo. 1995 gewann er den Preis „Bild des Jahres“ der amerikanischen National Press Photographers Association.

In mare No. 4 stellten die Autoren bereits die Vielfalt von Fischmäulern vor.
Person Von Frank J. Jochem und Jeffrey L. Rotman
Vita Frank J. Jochem, geboren 1961, ist promovierter Meereskundler. Seit April 1997 ist der in Kiel lebende Wissenschaftler Autor und Wissenschaftsredakteur bei mare.

Jeffrey L. Rotman, geboren 1949 in Boston, zählt zu den bekanntesten Unterwasser-Fotografen. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter fünf Kinderbücher, und seine Artikel erschienen unter anderem in mare No. 4, Life, Time, New York Times und Geo. 1995 gewann er den Preis „Bild des Jahres“ der amerikanischen National Press Photographers Association.

In mare No. 4 stellten die Autoren bereits die Vielfalt von Fischmäulern vor.
Person Von Frank J. Jochem und Jeffrey L. Rotman