Gemeinsam einsam

An einer einsamen Bucht in Alaska, nur durch einen Tunnel mit dem Rest der Welt verbunden, leben fast alle Einwohner einer Gemeinde unter einem Dach – in einem einzigen Hochhaus, das alles bietet, was eine Stadt zum Funktionieren braucht

In lang gezogenen Kurven windet sich der Highway am Meer entlang nach Süden, weg von Anchorage, der größten Stadt Alaskas, hinein in einen gigantischen, schneebedeckten Fjord. Auf dem dunklen Meerwasser auf der anderen Seite der Leitplanke treiben Tausende grauer Eisschollen. Am Horizont die Gipfel der Chugach Mountains, zu viele, um sie zu zählen, von denen sich bläuliche Gletscher ins Meer hinabwälzen. Die fahle Wintersonne bescheint, was hier, an der „last frontier“, wie die Amerikaner ihren jüngsten Bundesstaat nennen, noch immer die Oberhand zu haben scheint: die Natur.

Als Mensch ist man in Alaska Teil einer unbedeutenden Minderheit. Die Bevölkerung von Frankfurt lebt hier auf einer Fläche so groß wie Deutschland, Frankreich und Spanien zusammen. Ein einsames, leer gefegtes, wildes Westeuropa ist schwer vorstellbar; in Alaska ist es Alltag.

Nach einer guten Stunde Fahrt durch Schneetreiben biegt die Straße nach Whittier ab. Sie führt durch einen Winkel des Chugach-Nationalparks, der fast so groß ist wie Nordrhein-Westfalen. Zur Rechten taucht ein zugefrorener Gletschersee auf, in dessen endlosem Weiß zwei schwarze Pünktchen auszumachen sind – ein Mensch und sein Hund. Dann, hinter einer Kurve, ein einsames Kassenhäuschen: der Eingang zum Eisenbahntunnel. Er ist der einzige Zugang nach Whittier.

Die Kassiererin freut sich über Besuch. Alle halbe Stunde, erklärt sie, öffne der Tunnel für Autos, rein nach Whittier, dann wieder heraus. Manchmal komme ein Güterzug dazwischen. Gerade seien es nur 20 Minuten Wartezeit. Sie selbst lebe seit 25 Jahren in Whittier. „Für mich ist Whittier wie das ,Hotel California‘. Ich kam – und konnte nie wieder weg.“ Sie lächelt.

Vier Spuren, vier rote Ampeln, dahinter der dunkle Schlund des Tunnels. Über allem thront der mächtige Gletscherfels. Als sich die Schranke hebt, beginnt die vier Kilometer lange Reise durch den Berg. Neben den Schienen, über die das Auto schlittert, ist kaum Platz. Es tropft von der Decke, die Beleuchtung ist spärlich. Irgendwann ist im Rückspiegel der Lichtkegel eines zweiten Autos zu sehen.

Nach Minuten höchster Konzentration erblickt man einen hellen Schein: die Ausfahrt nach Whittier. Bereits am Tunnelausgang packt eine Schneeverwehung die Reifen, Wind und Schnee wirbeln durch den grauen Himmel, passend zum geflügelten Wort der Bewohner von Anchorage, das sie Reisenden hierher gerne zuwerfen: „It’s always shittier in Whittier!“

Wer zum ersten Mal nach Whittier kommt, der kann nicht umhin, es anzustarren: das gigantische Haus, das über der Bucht thront, ein brutalistischer Bau, wie aus einer sowjetischen Postkarte ausgeschnitten und in die Gletscherbergwelt geklebt. Airbnb-Unterkünfte bietet in Whittier niemand, ein Hotel gibt es auch nicht im Ort, nur das „Anchor Inn“, ein Restaurant, das ganzjährig geöffnet hat, verfügt über ein paar Gästekojen. Wer als Besucher im Whittier absteigt, landet im Zweifel gleich selbst im Hochhaus, in „June’s Condo Suites“ im 14. oder 15. Stock – einen 13. gibt es nicht. 200 Menschen leben in Whittier, fast alle in diesem Gebäude.

Oben angekommen, erlebt man ein Naturkino aus unwirklicher Höhe. Der Mensch schwebt über der Landschaft, es gibt kein anderes Lebewesen oder Gebäude auf derselben Höhe weit und breit, nur die Gletscher auf der anderen Seite der Bucht. Der Blick aus dem Fenster schweift über den kleinen Ort, durch dessen Mitte die Bahnstrecke führt. Auf der hiesigen Seite Hochhaus, „Anchor Inn“, eine Fischfabrik, dazwischen Dutzende Schiffswracks. Drüben Yachthafen, Containerhafen und die große Bucht, an die sich das Menschengemachte klammert. Über allem liegt Schnee, hart gefroren.

Man hört hier oben auch den Wind, eine Art Grundrauschen, ein sanftes Heulen. Plötzlich, ungeahnt, schwillt es zu einem Brausen an. Ohne Vorwarnung stürzen Schneeböen am Fenster vorbei, verwischen die Aussicht, reiten die Fassade hinunter, wirbeln mannshohe Windhosen über den Parkplatz vor dem Haus, brausen die Straße entlang, schmirgeln den Schnee über den Asphalt, bis nur noch blankes Eis zurückbleibt, hissen schwere Schneefahnen auf den Dächern. Das berüchtigte Whittier-Wetter.

Die weißen Wirbel rasen Richtung Meer, zwischen den Fischerbooten und Containern hindurch, hinaus auf den gigantischen, majestätischen Prinz-William-Sund. Nur Momente später peitschen sie das dunkelgraue Gletscherwasser vor sich her, schleudern es hoch, bis es wütend schäumt, hetzen es in Richtung der weißen Berge am Horizont. Whittier ist statistisch gesehen die niederschlagsreichste Stadt Amerikas. Und im Winter wird es nur ein paar Stunden hell, weil es die Sonne nicht über die Gipfel schafft.


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mare No. 131

No. 131Dezember 2018 / Januar 2019

Von Felix Zeltner und Nicole Strasser

Felix Zeltner, Jahrgang 1982, Journalist in New York, brauchte zwei Jahre, um diese Geschichte zu erzählen. Die Eigentümergemeinschaft des Hochhauses wehrte sich vehement gegen eine Reportage. Erst nach einem Testbesuch im Frühling 2017 und vielen Gesprächen war der Weg ins winterliche Hochhaus frei.

Die beiden Whittier-Reisen gingen Nicole Strasser, geboren 1975, Fotografin in Bokeloh bei Hannover, nahe. „Ich konnte oft nachts kein Auge zutun, so mitgenommen war ich von dem Ort.“

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Vita Felix Zeltner, Jahrgang 1982, Journalist in New York, brauchte zwei Jahre, um diese Geschichte zu erzählen. Die Eigentümergemeinschaft des Hochhauses wehrte sich vehement gegen eine Reportage. Erst nach einem Testbesuch im Frühling 2017 und vielen Gesprächen war der Weg ins winterliche Hochhaus frei.

Die beiden Whittier-Reisen gingen Nicole Strasser, geboren 1975, Fotografin in Bokeloh bei Hannover, nahe. „Ich konnte oft nachts kein Auge zutun, so mitgenommen war ich von dem Ort.“
Person Von Felix Zeltner und Nicole Strasser
Vita Felix Zeltner, Jahrgang 1982, Journalist in New York, brauchte zwei Jahre, um diese Geschichte zu erzählen. Die Eigentümergemeinschaft des Hochhauses wehrte sich vehement gegen eine Reportage. Erst nach einem Testbesuch im Frühling 2017 und vielen Gesprächen war der Weg ins winterliche Hochhaus frei.

Die beiden Whittier-Reisen gingen Nicole Strasser, geboren 1975, Fotografin in Bokeloh bei Hannover, nahe. „Ich konnte oft nachts kein Auge zutun, so mitgenommen war ich von dem Ort.“
Person Von Felix Zeltner und Nicole Strasser