Gelöst vom Anker der Geschichte

Ein Werk des deutschen Malers Norbert Tadeusz fasst das Drama der Flüchtlinge unserer Zeit auf bewegende Weise zusammen

Die stille Erhabenheit des Meeres, das sich ruhig bis zum Horizont erstreckt. Das sich in den Himmel ergießende Orange der untergehenden Sonne, die den Betrachter im Dunkel einer virtuos ausgeleuchteten Apokalypse zurücklässt und seine Urlaubssehnsüchte und alle Versprechungen der Tourismusindustrie beschämt. Die Sehnsucht des Surfers, der auf seinem Brett durch einen Konfettiregen zu fliegen scheint. Die Sehnsucht der Mutter, die ihre auf einer Luftmatratze liegende Tochter und das in einem Schwimmreifen hängende Baby durchs Wasser zieht. Die Sehnsüchte der jungen Männer, die in einer agilen Choreografie ins Meer springen. Die Hoffnung auf nahtlose Bräune einer sich lasziv räkelnden Frau, während aus der Tiefe die Hand eines Ertrinkenden nach ihrer Luftmatratze greift.

„Ich male nur, was ich gesehen habe“, sagte der 1940 in Dortmund als Sohn eines Kürschners geborene und 2011 in seinem Düsseldorfer Atelier verstorbene Norbert Tadeusz, der sich zeitlebens der Abstraktion verweigerte und in seinen oft monumentalen Bildern die mit allen Sinnen erfassten Licht- und Schattenseiten der menschlichen Existenz betrachtete. „Ich habe ja keine Ideen, die ich malen will, kein Programm, das ich vorführe, keine Mission“, so Tadeusz Mitte der achtziger Jahre in einem Interview. In seinem 2006 vollendeten Gemälde „Beider Sizilien (Mare)“ bezeugt er im Duktus eines zeitlosen Historienbilds eine europäische Gegenwart, in der das Ferienidyll des Mittelmeerurlaubers Schauplatz einer humanitären Tragödie ist, neben der sich das Vergnügen unserer kommerziellen Freizeitkultur wie eine Obszönität ausnimmt.

„Wie macht man aus Katastrophen Kunst?“, fragte der britische Schriftsteller Julian Barnes in seinem Roman „Eine Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln“, in dem er Géricaults 1819 entstandenes, ebenfalls vor dem Panorama einer untergehenden Sonne inszeniertes Gemälde „Das Floß der Medusa“ einer analytischen Betrachtung unterzieht und in der Darstellung der zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankenden Schiffbrüchigen die universelle Erfahrung des verlorenen Menschen erkennt.

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mare No. 140

mare No. 140Juni / Juli 2020

Von Thomas David

Der Hamburger Autor Thomas David schreibt seit 25 Jahren über Kultur. Sein jüngstes Buch ist ein biografischer Essay über Herman Melville.

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Vita Der Hamburger Autor Thomas David schreibt seit 25 Jahren über Kultur. Sein jüngstes Buch ist ein biografischer Essay über Herman Melville.
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