Gekocht, geschält, geschliffen

Und dann zu Kämmen oder Tintenfässern geformt: Schildpatt verleiht Accessoires den Glanz der Extravaganz

Am Anfang war die Schildkröte. Und das Meer. Kein Land gab es. Das Tier schaufelte Sand am Meeresboden auf, wieder und wieder, so lange, bis eine Insel aus dem Wasser gewachsen war. Dort ruhte sich die Schildkröte aus und vergrub ihre Eier. Und irgendwann schlüpften aus diesen Eiern die ersten Menschen. So erzählt es ein Märchen aus Papua-Neuguinea.

Doch die Menschen dankten es der Schildkröte nicht. Sie jagten sie, denn sie wollten nicht nur ihr Fleisch, sie wollten ihren Panzer. Also trieben sie sie vom Riff in Netze, durchbohrten sie auf hoher See mit dem Speer oder überraschten sie an Land bei der Eiablage. Sie fesselten und rösteten sie über dem Feuer, damit sich die Hornplatten vom Panzer lösten. Manche Fischer tauchten ihre Beute auch in siedend heißes Wasser; ganz leicht ließen sich dann die einzelnen Schilde mit der Messerspitze vom Körper trennen. Die Tiere, die der Tod noch nicht geholt hatte, stießen die Menschen zurück ins Meer, in der Hoffnung, dass ihnen das Schildpatt wie ein Fingernagel nachwachse.

Der griechische Gott Hermes machte aus einem Schildkrötenpanzer den Schallboden seiner Lyra. Die alten Ägypter formten daraus Armringe, und die Römer dekorierten damit die Türen ihrer Villen. Zu der Zeit Kaiser Neros waren Holzmöbel mit Intarsien aus Schildpatt sehr in Mode. Kaiser Clodius Albinus soll gar Besitzer einer Badewanne aus jenem geschätzten Handelsgut gewesen sein. Vornehme Patrizier verkleideten die Wände ihrer Schlafzimmer mit Schildpatt, das Gestell ihrer Betten und sogar die Wiegen ihrer Kin- der – jedoch nicht zu Repräsentationszwecken, sondern im festen Glauben, dass der Panzer die Neugeborenen vor Krankheiten schütze.

Weit über das Altertum hinaus war der Artikel begehrt. Wann immer es galt, Gegenständen des Alltags das Flair des Luxuriösen zu verleihen, wetteiferte Schildpatt mit Elfenbein und Perlmutt um die Gunst der Handwerker und ihrer Auftraggeber. In Japan machten sie Medizindöschen, Teelöffel und angeblich sogar Kondome aus Schildpatt, in China Opiumpfeifen und Fächer. Spiegelrahmen in Italien, Parfumflakons in Russland, ein zierlicher Knopf, ein eleganter Knauf am Spazierstock, die Puderdose für die Dame, das Zigarettenetui für den Herrn – sie alle waren aus jenem edlen Material, das seine Blütezeit in Europa vom 17. bis ins 19. Jahrhundert hatte.

„Jedoch“, schreibt Johann Beckmann 1724 in seiner „Vorbereitung zur Waarenkunde“, „wissen nur wenige Künstler mit diesem Material geschickt umzugehen, und diese machen aus ihrem Verfahren ein Geheimnis.“ Einer, der es konnte und sein Wissen mehr als ein Jahrhundert später in einem „Handbuch für Kammmacher, Horn- und Beinarbeiter“ preisgab, war Heinrich Kühn. Er verstand sich darauf, stumpfe Hornplatten in glänzende, mit reichlich Ornament verzierte Schmuckstücke fürs Haar zu verwandeln. Er schuf Kämme, filigran gearbeitet, bernsteinfarben, fast golden leuchtend, mit dunklen Flecken, die hier wie Tupfer in einem Leopardenfell anmuteten, dort in allerlei Brauntönen ineinander flossen. Wie viele seiner Kollegen sah Kühn sich weniger als Handwerker denn als Designer.

Begehrtester Rohstofflieferant war die Echte Karettschildkröte, eine Meeresschildkröte von bis zu 100 Zentimeter Größe, die in tropischen und subtropischen Gewässern lebt. Ihr Schildpatt, heißt es bei Kühn, sei „klarer, durchsichtiger und schöner gefärbt als das von anderen Arten dieses Geschlechts“. Doch müsse das Tier mindestens einen Zentner wiegen, dann erst sei das Schildpatt massiv genug. Von den 13 brauchbaren Hornplatten eines Tieres war jede einzelne unterschiedlich dick; einige brachten es lediglich auf zwei Millimeter Stärke, andere immerhin auf einen halben Zentimeter.

Besonders hoch im Kurs stand Ware von den Gewürzinseln und Neu-Guinea, die über Singapur nach Europa eingeführt wurde. Sorgsam verpackt in schweren Holzkisten, gelangte das Schildpatt oder Schildkrot, wie es auch genannt wurde, erst nach London, Amsterdam, Marseille oder Hamburg und von dort in die Werkstätten der Kammmacher in Berlin, Dresden, Nürnberg oder Ober-Ramstadt bei Darmstadt, einem Zentrum des Kamm- machergewerbes.

120 Mark kostete ein Kilogramm besten Schildpatts im Jahr 1877. Angesichts solcher Preise tat der Kammmacher nicht nur gut daran, beim Einkauf auf mögliche, durch „Wurmfraße“ entstandene Mängel zu achten, die sich bei Lagerung in Behältern fast unvermeidlich einstellten.


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mare No. 41

No. 41Dezember 2003 / Januar 2004

Von Sandra Schulz und Johannes von Saurma

Sandra Schulz, Jahrgang 1975, Politologin und Absolventin der Berliner Journalistenschule, lebt als freie Journalistin in Berlin und schreibt hauptsächlich für die Frankfurter Rundschau.

Fotos: Johannes von Saurma

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Vita Sandra Schulz, Jahrgang 1975, Politologin und Absolventin der Berliner Journalistenschule, lebt als freie Journalistin in Berlin und schreibt hauptsächlich für die Frankfurter Rundschau.

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Vita Sandra Schulz, Jahrgang 1975, Politologin und Absolventin der Berliner Journalistenschule, lebt als freie Journalistin in Berlin und schreibt hauptsächlich für die Frankfurter Rundschau.

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