Gefangen im Bittersee

Sechs Tage Krieg, 3016 Tage Warten zwischen den Fronten. Geschichten von der längsten Reise eines deutschen Frachters

5. Juni 1967

Pünktlich um halb sieben in der Frühe lichten 14 Handelsschiffe im ägyptischen Port Suez die Anker, um in nördlicher Richtung ihre Passage durch den Sueskanal anzutreten. An der Spitze des Konvois, der sich aus Schiffen sieben verschiedener Nationen zusammensetzt, fährt die deutsche "Münsterland". Der 10000-Tonnen-Frachter der Hapag unter dem Kommando von Kapitän Karl Hoffmann befindet sich auf der Rückkehr von Australien.

Die "Münsterland" durchfährt um elf Uhr die lang gestreckte Linkskurve südlich von Kabrit, als Kampfflugzeuge der israelischen Luftwaffe im Tiefflug über den Kanal jagen. Hoffmann ist mit seinem Konvoi in die ersten Angriffe des Sechstagekriegs geraten. Von einer Radiostation im ägyptischen Ismailia erhält Hoffmanns Kanallotse Order, die Frachter im Großen Bittersee anzuhalten. Das Binnengewässer, knapp 100 Kilometer östlich von Kairo, dient entgegenkommenden Konvois als Ausweichstelle; über knapp 30 Kilometer Länge verbindet der See den nördlichen und südlichen Abschnitt des Kanals. Genau 3016 Tage wird er für die Frachter, die sich ihm in der Mittagsglut nähern, ein fest verschlossenes Gefängnis sein.

Am frühen Nachmittag rasseln im Bittersee die Anker der "Münsterland" und der 13 anderen Schiffe in die Tiefe. Zum Konvoi gehört noch ein weiterer deutscher Frachter, die "Nordwind", und ein Schiff aus den USA, die "African Glen". Vier Engländer liegen im Wüstensee fest: die "Agapenor", "Melampus", "Scottish Star" und "Port Invercargill"; außerdem die "Killara" und "Nippon" aus Schweden, die französische "Sindh", die polnischen Frachter "Boleslaw Bierut" und "Djakarta", die bulgarische "Vassil Levsky" und die tschechische "Lednice". Im südlichen Teil des Sees, wenige Meilen vom Ufer entfernt, warten die Frachter auf ihre Weiterfahrt.

Zum Stillstand verdammt, verharren die Frachtschiffe in brennender Sonne, die Wüste vor Augen. Ende Juli dürfen 22 der 44 Besatzungsmitglieder sowie die zehn Passagiere der "Münsterland" in ihre Heimat zurückkehren. Im August erfolgt die Ablösung der Restcrew. Kapitän Hoffmann weist die neue Mannschaft ein, bevor auch er nach Hamburg zurückkehrt. Bis zuletzt hat ihm die Kanalbehörde versichert: "Dieser Konvoi kommt noch durch!"

Die Schiffe liegen bereits ein Vierteljahr fest, als Kapitän Jim Starkey auf einer Versammlung an Bord der "Melampus" die "Great Bitter Lake Association" gründet. Hauptziel der Vereinigung: die Freundschaft der Besatzungen und die gegenseitige Hilfe sowie gemeinsame Unternehmungen zu fördern. Als sichtbares Zeichen verankern die Seeleute in der Mitte des Bittersees eine Boje, die entsprechend der Anzahl der Schiffe mit einer "14" versehen ist.

Sommer 1968

Bei den Seeleuten, die halbjährlich ausgetauscht werden, ist der Job im Bittersee nicht unbedingt beliebt. "Aber wenn du das nicht machst, wirst du nie mehr Kapitän", sagt sich Dirk Moldenhauer, als er von der Hapag als Erster Offizier zur "Münsterland" geschickt wird. Moldenhauer, heute Direktor des Hamburg Cruise Center, erinnert sich an sein Arbeitspensum: "Das Schiff musste vor allem gegen das sehr salzhaltige Wasser konserviert werden. Bei Temperaturen um 50 Grad Celsius haben wir das Ladegeschirr eingefettet und den Zustand der Diesel, des Ruders und der Schiffsschraube überprüft. Und einmal im Monat ging's mit Volldampf den See runter, damit die Maschine sich nicht festsetzt."

Die Freizeit verbringt die Crew beim Skatspielen und mit Filmabenden. Ein Vorschlag vom benachbarten Frachter wird begeistert aufgenommen: Die Polen von der "Djakarta" wollen parallel zu den Olympischen Spielen, die gerade in Mexiko stattfinden, Bittersee-Spiele veranstalten. Wettkämpfe in 14 Disziplinen werden vorbereitet, darunter Rudern und Gewichtheben, Schwimmen und Kunstspringen, Tischtennis und Fußball. Verteilt sind die Spiele auf verschiedene Schiffe. Auf der britischen "Port Invercargill" etwa wird ein ganzes Deck für das Fußballturnier mit Netzen abgehängt. Das Gros der Spiele aber findet auf der "Münsterland" statt.

Zur gleichen Zeit donnern täglich Kampfflugzeuge über den Bittersee. "Andauernd gab's Feuergefechte. Zehn bis zwölf Stunden am Tag flogen Granaten übers Schiff", erzählt Moldenhauer. Angst hat er zu dieser Zeit noch nicht. Der Erste Offizier sitzt oft im Liegestuhl an Deck der "Münsterland" und beobachtet, wie sich die verfeindeten Parteien beschießen.

Unter solchen Umständen ist die Versorgung der Schiffe besonders schwierig. Die Lebensmittel müssen per Lastwagen mitten durchs Kriegsgebiet. Von den Containern, die in den Dünen am Bittersee ankommen, sind viele leer - von der ägyptischen Armee geplündert. Die wenigen Güter, die ihr Ziel erreichen, werden von den Schiffscrews in Beibooten zu den Frachtern transportiert.

In ihrer Not greifen die Mannschaften zur Selbsthilfe und bedienen sich an der Fracht. In den Kühlräumen der "Münsterland" etwa lagern Fleisch, Butter und Weintrauben, außerdem fast acht Millionen Eier und mehr als 300 Tonnen Birnen.

Sommer 1969

Die Misere in der Küche ist nicht von Dauer, die Crew lernt schnell. Als Kapitän Jürgen Katzler aus Hamburg das Kommando der "Münsterland" übernimmt, fängt die Mannschaft mit selbst gebauten Körben Langusten und angelt Fisch. Zwischen den 14 Schiffen entwickelt sich ein lebhafter Tauschhandel: Garnelen gegen Hammelkotelett, Rindfleisch gegen Kaninchen, Haifisch gegen Geflügel.

Die "Münsterland" beherbergt mittlerweile die Kirche des Konvois. Allsonntäglich versammeln sich die Seeleute aus Asien, Europa und Amerika an Bord des deutschen Frachters zum Gottesdienst. Bei der Gelegenheit werden Erfahrungen ausgetauscht und Neuankömmlinge vorgestellt. Deutsche, amerikanische, britische und französische Crews verstehen sich nicht nur untereinander, sie pflegen auch beste Kontakte zu Seeleuten aus Polen, Bulgarien oder der Tschechoslowakei. "Wenn es irgendwo einen Maschinenschaden gab", erzählt Kapitän Katzler, "wurde nicht lange gefackelt. Man ging rüber und half."

September 1970

Zur gleichen Zeit trauert Ägypten um seinen verstorbenen Staatsführer Nasser. Der neue Präsident, Anwar al-Sadat, zeigt gegenüber Israel eine ähnliche Haltung wie sein Vorgänger. In einem seiner ersten Interviews äußert Sadat: "Niemand in diesem Land wird auch nur einen Zoll Boden oder ein einziges Sandkorn preisgeben." Für seine Pläne, die von Israel besetzten Gebiete zurückzuerobern, spekuliert Sadat dabei auf die erneute Waffenhilfe der UdSSR.

Sadat hat in Sachen Waffenlieferungen bei den Russen noch nichts erreicht und versucht es jetzt auf dem Konfrontationskurs. Anfang der siebziger Jahre leben in Ägypten rund 5000 sowjetische Berater mit ihren Familien. Im Straßenbild Kairos demonstrieren sowjetische Embleme und Lenin-Plakate unübersehbar den Einfluss Moskaus. Doch nun fordert Sadat die Sowjets plötzlich auf, ihre Koffer zu packen und das Land zu verlassen. Um ihre Präsenz im Nahen Osten fürchtend, erklärt sich die Sowjetunion daraufhin bereit, Ägypten weiterhin Militärhilfe zu leisten. Wenig später schließt Kairo den bislang größten Waffenliefervertrag mit Moskau ab. Sadat erklärt, Verhandlungen mit Israel kämen nicht in Frage.

Auf den Schiffen im Bittersee wird es unterdessen immer stiller. Noch unter dem Kommando von Kapitän Katzler ist die "Münsterland" mit vier weiteren Frachtern zusammengelegt worden. Das Fünferpaket heißt nun "Müwinikies" - "Münsterland", "Nordwind", "Nippon", "Killara" und "Essayons" steuern jeweils zwei Buchstaben ihres Namens bei. Auch die restlichen Schiffe werden zu Verbänden zusammengezogen. Immer mehr Personal wird abbeordert, 1970 feiern die Seeleute zum letzten Mal gemeinsam ein ausgelassenes Weihnachtsfest.

6. Oktober 1973

Die Stille trügt. Am wichtigsten jüdischen Feiertag, dem Versöhnungsfest Jom Kippur, holt Präsident Sadat zum Vergeltungsschlag aus: 4000 ägyptische Soldaten stürmen über den Sueskanal und dringen nach Osten vor. In die Defensive geraten, wenden sich die Israelis um Militärhilfe an Washington. Entgegen einer neuen Vereinbarung mit Moskau, dass keine der Supermächte sich einen Vorteil auf Kosten der anderen verschaffen werde, entschließt sich der US-Präsident, Waffen an Israel zu liefern. "Wir steigen voll ein", bekundet Richard Nixon, Kritik werde es ohnehin hageln, ganz gleich, ob man zwei, drei oder 40 Flugzeuge bereitstelle. Neu bewaffnet, dringen die Israelis am 16. Oktober 1973 über den Sueskanal nach Ägypten ein. Die Panzerarmee des Generals Ariel Sharon kommt erst 100 Kilometer vor Kairo zum Stehen.

Sadat ist entsetzt. Der sowjetische Botschafter Anatoli Dobrynin wird Zeuge, wie das Staatsoberhaupt Ägyptens am Telefon Leonid Breschnew beschwört: "Schützen Sie uns vor den israelischen Panzern!" Moskau einigt sich mit Henry Kissinger auf den Entwurf eines Waffenstillstandsabkommens. Nur ist Israels Ministerpräsidentin Golda Meir noch nicht bereit, den Krieg zu beenden. Mit stiller Duldung der Amerikaner verschärfen die Israelis ihre Angriffe. Als die Russen jedoch mit direkter Intervention auf Seiten der Araber drohen, eskaliert die Situation zum gefährlichen Tauziehen zwischen den Supermächten. Kissinger ist entschlossen, einem sowjetischen Einmarsch zuvorzukommen, und versetzt die US-Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft. Mit Erfolg: Breschnew lässt den Gedanken an den Einsatz eigener Truppen fallen. Nach drei Wochen ist auch dieser Krieg für die ägyptische Armee verloren.

Sommer 1974

Die Wiedereröffnung des Sueskanals rückt in greifbare Nähe. Die Hapag, mittlerweile fusioniert mit dem Norddeutschen Lloyd, schickt Reedereiinspektor Hans Benkeser mit drei Mitarbeitern zum Großen Bittersee. Der Bericht der Kundschafter übertrifft alle Erwartungen: Die "Münsterland" ist erstaunlich gut erhalten.

24. Mai 1975

Gegen Mittag erreichen die "Münsterland" und die "Nordwind" Hamburg. Sie werden begeistert empfangen. Hunderte von Yachten und Barkassen geben ihnen das Geleit, Feuerwehrboote prusten ihnen aus allen Löschkanonen Fontänen entgegen, Leuchtraketen steigen auf, Sportflugzeuge und Hubschrauber brummen über die Heimkehrer hinweg. Knapp 100000 winkende Menschen säumen die Ufer.


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mare No. 40

No. 40Oktober / November 2003

Von Elmar Hess

Elmar Hess, Jahrgang 1966, ist freischaffender Künstler und Regisseur. Er lebt in Hamburg und Berlin.

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Vita Elmar Hess, Jahrgang 1966, ist freischaffender Künstler und Regisseur. Er lebt in Hamburg und Berlin.
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Vita Elmar Hess, Jahrgang 1966, ist freischaffender Künstler und Regisseur. Er lebt in Hamburg und Berlin.
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