Gefahr aus dem Nichts

Nicht nur Seebeben lösen Tsunamis aus. Auch starke Luftdruckschwankungen können die gefürchteten Wellen bilden. Diese Meteotsunamis werden unterschätzt, sagen Ozeanografen

Die Sonne scheint wieder am 9. Juli 1969. Nach einigen bewölkten Tagen ist Badewetter, und die Gruppe „Südwest“, 13 Jungen sowie zwei Betreuerinnen aus dem Erholungsheim in Klappholttal auf Sylt, macht sich auf den Weg zum nahen Strand. Fünf Minuten Badezeit hat der zuständige Rettungsschwimmer den acht- und neunjährigen Kindern eingeräumt und dafür einen flachen Bereich abgesteckt. Es weht eine frische Brise, doch die See ist relativ ruhig. Zumindest scheint es so.

„Wie aus dem Nichts“, heißt es einen Tag später in der „Sylter Rundschau“, tauchte eine etwa ein Meter hohe Welle auf und brach unmittelbar vor den Kindern. Der Rettungsschwimmer, der sich später vor Gericht verantworten musste, rannte sofort ins Wasser. „Drei Kinder klammerten sich an mich. Sie schrien ,Retten Sie mich, retten Sie mich, retten Sie mich‘, immer wieder“, berichtet er später einer „Zeit“-Journalistin.

Bei den alteingesessenen Insulanern war ein Schuldiger bald gefunden: Der Seebär, so munkelte man, habe wieder zugeschlagen. Gemeint war damit eine plötzlich auftretende hohe Welle, die ihren Namen einer Verballhornung des niederdeutschen Wortes für „heben“, „bören“, verdankt. Tatsächlich ist das Phänomen damit ganz gut umschrieben. Ein Seebär entsteht, wenn das Meer durch einen Druckunterschied in der Luft ein ganz klein wenig angehoben wird und eine zunächst kleine Welle entsteht, die unter bestimmten Wind- und Luftdruckbedingungen immer größer wird.

Eigentlich kennt man die heute als Meteotsunamis bezeichneten Wellen seit Jahrhunderten. „Aber sie sind in Vergessenheit geraten“, meint Anna von Gyldenfeldt vom Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie. „Vermutlich, weil die Menschen nicht mehr so sehr im Einklang mit der Natur leben und wir durch unsere Deiche auch gut geschützt sind.“

Die Ozeanografin prüft derzeit, ob ein Warnsystem in Nord- und Ostsee entwickelt werden kann. Für die Balearen, wo in einigen Buchten recht regelmäßig Meteotsunamis auftreten, gibt es ein solches Warnsystem bereits. Allerdings könne dieses weltweit erste System nur vorhersagen, wann ein Meteotsunami entstehe, nicht aber, wie gravierend er sein werde, erklärt Ivica Vilibic´, kroatischer Experte für Meteotsunamis. „Am 15. Juni 2006 zum Beispiel richteten fünf Meter hohe Wellen auf Menorca einen Schaden von 30 Millionen Euro an, obwohl die Vorhersage nur eine moderate Gefahr vorausgesagt hatte.“

Generell können Meteotsunamis überall in flacheren Gewässern auftreten, auch an Seen. Neben der Mittelmeerküste, die wegen des sonst nur geringen Tidenhubs schlecht gegen höhere Wasserstände geschützt ist, nennt Vilibic´ auch die Nord-und Ostseeküste, den Schelf vor Brasilien, die US-Ostküste sowie die Küsten am Südchinesischen Meer, in Südafrika und im westlichen Australien als Beispiele.

Meistens richten Meteotsunamis nur Sachschäden an. In einigen Fällen aber sind auch Todesfälle bekannt. In den 1950er-Jahren etwa kamen in Chicago sieben Menschen durch einen Meteotsunami ums Leben, in Nagasaki nahm eine beinahe fünf Meter hohe Welle im Jahr 1979 drei Menschen das Leben. Das sind die bekanntesten Fälle. Es dürfte aber weit mehr Opfer von Meteotsunamis geben, weil sie vielerorts gar nicht als solche erkannt wurden. Nach und nach werden alte Fälle wie das Sylter Beispiel aufgearbeitet. Doch die historische Forschung an Meteotsunamis steht ebenso wie die physikalische noch am Anfang. 


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mare No. 123

No. 123August / September 2017

Von Tomma Schröder

Tomma Schröder, Jahrgang 1980, Autorin in Flensburg, war bei dieser Recherche besonders berührt vom Schicksal des Sylter Rettungsschwimmers, der am Ende immerhin neun Kindern das Leben rettete.

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Vita Tomma Schröder, Jahrgang 1980, Autorin in Flensburg, war bei dieser Recherche besonders berührt vom Schicksal des Sylter Rettungsschwimmers, der am Ende immerhin neun Kindern das Leben rettete.
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Vita Tomma Schröder, Jahrgang 1980, Autorin in Flensburg, war bei dieser Recherche besonders berührt vom Schicksal des Sylter Rettungsschwimmers, der am Ende immerhin neun Kindern das Leben rettete.
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