Gebrauchsanweisung für das Meer

Der neue „World Ocean Review 4“ widmet sich ganz dem Konzept der Starken Nachhaltigkeit zur Rettung der Meere

Dem Meer geht es schlecht. Der Mensch übernutzt die Fischbestände. Er setzt durch Verbrennung von Erdöl, Erdgas und Kohle Unmengen des Treibhausgases Kohlendioxid frei, das sich im Meer löst und zu einer langsamen Versauerung des Wassers führt. Besonders belastet sind die Küstenregionen. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen (UN) leben heute mehr als 40 Prozent der Weltbevölkerung in Küstennähe. Von den 20 Megastädten mit mehr als zehn Millionen Einwohnern liegen 13 am Meer. Entsprechend stark genutzt und beeinträchtigt sind viele Küstengebiete. Ein großes Problem ist die Überdüngung der Küstenmeere durch Nährstoffe aus der Landwirtschaft. Auch durch Baumaßnahmen, Eindeichungen und Schadstoffeinleitungen werden Küstenmeere geschädigt. Besonders gefährdet sind Feuchtgebiete, Salzwiesen und Wattflächen, Korallenriffe und Mangrovenwälder. Die Ozeane werden sich nur retten lassen, wenn es der Menschheit endlich gelingt, das Meer besser zu schützen und nachhaltig zu nutzen. Zwar haben Wissenschaftler in den vergangenen Jahren konkrete Konzepte für den Meeresschutz und nachhaltiges Wirtschaften entwickelt, doch werden diese bis heute nur in wenigen Fällen umgesetzt. Im jetzt erschienenen „World Ocean Review 4“ (WOR 4) wird diskutiert, warum wir uns bei der nachhaltigen Nutzung der Meere und ihrem Schutz so schwertun. Der WOR 4 versucht dabei den Bogen von der Nachhaltigkeitstheorie zum wissenschaftlichen und politischen Alltag zu schlagen. Er zeigt, wie sich die Erkenntnisse der Nachhaltigkeitstheoretiker in konkrete gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Konzepte umsetzen lassen. Damit unterscheidet sich der aktuelle WOR 4 inhaltlich von den drei bisherigen Bänden. Während diese vor allem harte wissenschaftliche Erkenntnisse zu verschiedenen Aspekten wie dem Meeresfisch oder Rohstoffen aus dem Meer lieferten und diskutierten, führt der vierte Band in die moderne Meerespolitik ein. Er erklärt, warum die Verwaltung der Meere, Ocean Governance genannt, häufig versagt, stellt aber auch Positivbeispiele vor wie die Einführung der neuen Abgasgrenzwerte für die Handelsschifffahrt. Der WOR 4 setzt sich kritisch mit dem Begriff „Nachhaltigkeit“ auseinander. Das Wort wird heute in öffentlichen Diskussionen inflationär verwendet. Da es positiv besetzt ist, ähnlich wie „Frieden“ und „Naturschutz“, wird es gerne in allen möglichen Zusammenhängen benutzt. Die Industrie spricht von „nachhaltiger Produktion“, und selbst die Einführung eines Warmbadetags für Senioren wird als „nachhaltig“ beworben. Jeder versteht unter Nachhaltigkeit etwas anderes. Der WOR 4 erzählt von der Entstehung dieses Ausdrucks im 18. Jahrhundert und der Renaissance des Nachhaltigkeitsgedankens seit den 1960er-Jahren. Er diskutiert verschiedene Theorien und stellt als eine Lösung für die Zukunft das Konzept der Starken Nachhaltigkeit vor. Diese hat das Ziel, Naturgüter, die sogenannten Naturkapitalien, zu erhalten und nicht restlos zu verbrauchen. Dabei geht es keineswegs um eine Art musealen Naturschutzes, der die Natur in Gänze konservieren will. Starke Nachhaltigkeit versucht vielmehr, die wirtschaftliche Nutzung von Naturkapitalien und deren Schutz in Einklang zu bringen. Der Nachhaltigkeitstheorie folgt eine Bestandsaufnahme der aktuellen politischen Situation. Eine umfassende nachhaltige Nutzung des Meeres wird nämlich nicht zuletzt dadurch erschwert, dass weltweit verwirrend viele politische Institutionen für das Meer zuständig sind – von den supranationalen Gremien der UN bis zu den nationalen Umweltpolitiken in verschiedenen Ländern. Dass das Meer seevölkerrechtlich in mehrere Zonen unterteilt ist, macht es noch schwieriger, Maßnahmen durchzusetzen. Bis heute gibt es keine politische Instanz, die ein internationales Meeresgebiet vom Meeresboden bis zur Wasseroberfläche komplett unter Schutz stellen könnte. Es fehlt ein rechtlicher Rahmen, an den sich alle Staaten verbindlich halten. Der aktuelle Band soll aber auch Mut machen, indem er von den Fortschritten bei der nachhaltigen Nutzung der Meere berichtet. So hat sich die Europäische Union (EU) nach Jahrzehnten der Überfischung darauf geeinigt, ihre Gewässer künftig nachhaltig zu befischen. Und die Staaten der westafrikanischen Küste zwischen Mauretanien und Südafrika haben sich nach Jahren der Bürgerkriege darauf verständigt, fortan das Ökosystem im Kanarenstrom zu schützen. Dank des Kanarenstroms waren die Gewässer vor Westafrika einst reich an Fischen – bis die Bestände dramatisch abnahmen. Ermutigend ist auch, dass die UN den Meeresschutz in die Liste der „Sustainable Development Goals“ aufgenommen hat. Diese 17 globalen Entwicklungsziele geben die Marschroute für eine nachhaltige Entwicklung des Planeten bis 2030 vor, wozu auch die Bekämpfung der Armut und des Hungers gehört. Nach wie vor gilt, dass sich Meeresschutz vor allem dann erreichen lässt, wenn Menschen selbst aktiv werden. Eine gut informierte Öffentlichkeit kann den nötigen Druck erzeugen, um politische Änderungen zu bewirken. Dazu ist es aber vielerorts nötig, die Menschen bei der nachhaltigen Bewirtschaftung ihres Lebensraums zu unterstützen und zu begleiten. Der WOR 4 stellt Beispiele von internationaler Solidarität vor, die Hoffnung machen. Ein kostenloses Exemplar des WOR 4 können Sie bestellen unter www.worldoceanreview.com.

mare No. 113

No. 113Dezember 2015 / Januar 2016

Von Tim Schröder

Der Wissenschaftsjournalist Tim Schröder, Jahrgang 1970, stammt aus der kleinen Ostseestadt Kappeln an der Schlei, wuchs in Hamburg auf und lebt heute als freier Autor in Oldenburg in Niedersachsen.

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