Gazprom City

Unter dem Permafrost der Halbinsel Jamal im Arktischen Ozean liegen Russlands politische und wirtschaftliche Zukunftshoffnungen. Hier lagern riesige Mengen an Erdgas, die nicht nur Russlands innen-, sondern auch seine außenpolitischen Linien bestimmen

Die MIL MI-8 der Fluggesellschaft Gazpromavia fliegt tief, um unter den Wolken zu bleiben. Der Lärm der beiden Triebwerke, die die Rotorblätter antreiben, sticht in die Ohren, die mit Kunststoff bezogenen Sitzbänke des Hubschraubers sind hart und unbequem, es stinkt nach Treibstoff, Schweiß und Wodka. Die meisten der 24 Passagiere, die zur Arbeit auf dem Gasfeld Bowanenkowo fliegen, scheint das nicht zu stören. Sie schlafen.
Unter ihnen zieht karge Landschaft vorbei. Rotbraunes Land, blau schimmernde Seen und Wasseraugen bilden ein faszinierendes Flickwerk, unterbrochen von mäandernden Flüssen. Die arktische Tundra mit ihren Moosen, Flechten und Gräsern wirkt unberührt, von Menschen gibt es nirgends eine Spur.
Doch dann, 500 Kilometer nördlich des Polarkreises, tauchen aus dem Nichts gerade Linien auf. Pipelines, Stromleitungen und Straßen durchschneiden die Einöde und verlaufen sich irgendwo in der Ferne. Der Hubschrauber folgt den Linien. Bald erscheinen Dutzende von Stahlkonstruktionen am Horizont, Fabrikhallen und Wohnhäuser, Kräne und Bohrtürme, Kraftwerke und Pumpstationen. Eine Landebahn samt Flughafen aus Glas und Stahl kommt in Sicht. Nach drei Stunden Flug setzt der Hubschrauber in Bowanenkowo auf, dem nördlichsten Gasfördergebiet der Welt.
Für Funktionäre im russischen Staatskonzern Gazprom klingt der Name wie einst Klondike für amerikanische Goldsucher. Mit fünf Billionen Kubikmetern Erdgas gehört Bowanenkowo zu den größten Vorkommen der Welt – sie würden reichen, um Deutschland 50 Jahre lang zu versorgen. Russlands wertvollster Konzern Gazprom, der über einen direkten Draht zum Kreml verfügt, besitzt die Förderrechte.
Noch nie hat sich die Gasindustrie so weit nach Norden vorgewagt. Bowanenkowo liegt auf der Jamal-Halbinsel, die weit in die arktische Karasee hinausragt, 600 Kilometer von der nächsten Stadt entfernt. In der Sprache der nomadisierenden Nenzen, die im Sommer mit ihren Rentierherden durch die Tundra ziehen, bedeutet Jamal „Rand der Welt“. Auf Jamal fällt die Temperatur im Winter auf minus 50 Grad, Polarwinde fegen mit 100 Kilometern in der Stunde durch die Einöde, in der es keine Anhöhen und keine Bäume gibt, die Schutz bieten. Im Sommer taut der Boden bis etwa 70 Zentimeter tief auf, was ganze Landstriche in einen Sumpf verwandelt. Es gibt kein Durchkommen, selbst Kettenfahrzeuge versinken im Matsch.
Von einer solchen Gegend hält man sich in der Regel fern. Doch im Zeitalter versiegender Quellen in Westsibirien sahen sich Gazprom und der Kreml gezwungen, die Erschließung Jamals in Angriff zu nehmen. Auf der Halbinsel und in angrenzenden Gewässern lagern sagenhafte 50 Billionen Kubikmeter Gas, ein Sechstel der Weltreserven. Dazu 300 Millionen Tonnen Öl. Neben Bowanenkowo gibt es noch mindestens 25 andere Gasfelder. Gazprom hat sich schon an den acht wichtigsten die Bohrrechte gesichert.
Schnaufend steigt Wiktor Iwanowitsch Kolomizew die Treppen zum Bohrturm hinauf. Er reißt die Tür zum Drehtisch auf. Hinter den blau lackierten Metallblechen, die ein wenig Schutz vor dem Polarwind bieten, lassen zwei Arbeiter in blauen Jacken lange Stahlrohre in das Bohrloch fahren, die sorgfältig miteinander verschraubt werden. Der Bohringenieur zeigt auf einen verglasten Kontrollraum in der Ecke, wo Dutzende Warnschilder hängen. „Das ist das Hirn der ganzen Anlage“, sagt er. „Die Konstrukteure haben es auf den Namen ,Jekaterina‘ getauft.“
Per Joystick steuert der Bohrmeister im Kontrollraum den Bohrkopf, der tief unter der Erde die Sandsteinschichten durchschlägt. Er bestimmt seine Geschwindigkeit und den Bohrwinkel. In 1700 Meter Tiefe soll der Bohrer auf ein Gasreservoir stoßen. „Wir müssen den Druck stets im Auge behalten, damit uns das Bohrloch nicht um die Ohren fliegt“, sagt Kolomizew. Die Technik ist modern, „Jekaterina“ hat auch eine US-Zulassung bekommen.
Kolomizew, Anfang 50, hat sein Handwerk in Tschetschenien gelernt, bevor dort 1994 der Bürgerkrieg ausbrach. Danach bohrte er für Gazprom an vielen Orten, überall dort, wo es neue Felder zu erschließen galt. In Jamburg, Nischnewartowsk, Neftejugansk. „Ich habe viel gesehen. Aber das hier, das ist gigantisch, unvorstellbar“, sagt er. „Bowanenkowo, das ist ein Megaprojekt.“ Er schüttelt den Kopf, als könne er es selbst immer noch nicht glauben. „Aus diesem Bohrloch wird noch in 30 Jahren Gas strömen, so riesig sind die Reserven. Das Gas wird die Zukunft meiner Enkel sichern.“


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 106. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 106

No. 106Oktober / November 2014

Von Andrzej Rybak und Alexander Gronsky

Andrzej Rybak, Jahrgang 1958, freier Journalist in Hamburg, lebte fünf Jahre als Korrespondent in Moskau. In dieser Zeit war er Zeuge, wie der aus dem sowjetischen Ministerium für Erdöl- und Gaswirtschaft entstandene Gazprom-Konzern immer mächtiger wurde und auf der Suche nach neuen Vorkommen in die Arktis vordrang. Alexander Gronsky, geboren 1980, preisgekrönter Fotograf in Tallinn, ist bekannt für seine Landschaftsaufnahmen von Russland.

Mehr Informationen
Vita Andrzej Rybak, Jahrgang 1958, freier Journalist in Hamburg, lebte fünf Jahre als Korrespondent in Moskau. In dieser Zeit war er Zeuge, wie der aus dem sowjetischen Ministerium für Erdöl- und Gaswirtschaft entstandene Gazprom-Konzern immer mächtiger wurde und auf der Suche nach neuen Vorkommen in die Arktis vordrang. Alexander Gronsky, geboren 1980, preisgekrönter Fotograf in Tallinn, ist bekannt für seine Landschaftsaufnahmen von Russland.
Person Von Andrzej Rybak und Alexander Gronsky
Vita Andrzej Rybak, Jahrgang 1958, freier Journalist in Hamburg, lebte fünf Jahre als Korrespondent in Moskau. In dieser Zeit war er Zeuge, wie der aus dem sowjetischen Ministerium für Erdöl- und Gaswirtschaft entstandene Gazprom-Konzern immer mächtiger wurde und auf der Suche nach neuen Vorkommen in die Arktis vordrang. Alexander Gronsky, geboren 1980, preisgekrönter Fotograf in Tallinn, ist bekannt für seine Landschaftsaufnahmen von Russland.
Person Von Andrzej Rybak und Alexander Gronsky