Ganz oben

Eine hauchdünne Schicht voller Leben: In den obersten Zentimetern der Ozeane existiert eine Gemeinschaft teils bizarrer Geschöpfe, denen Stürme und schädliches UV-Licht nichts anhaben können

Meist muss der Mond herhalten, wenn es um das verborgene Leben im Meer geht. Seine Oberfläche sei besser erforscht als die Tiefsee, heißt es dann. Und tatsächlich, in der Tiefsee, von der man ab einer Tiefe von 200 Metern spricht, herrschen Kälte, Dunkelheit und ein extremer Druck. Nur mit hohem technischem Aufwand, verbunden mit enormen Kosten, ist es Forschern möglich, das Leben dort unten zu erkunden. So verwundert es nicht, dass bis heute gerade fünf Prozent der Tiefsee erforscht sein sollen.

Und doch gibt es einen weiteren Bereich der Meere, über den man fast genauso wenig weiß: die obersten Zentimeter der Ozeane. Dort lebt eine Gemeinschaft teils bizarrer Geschöpfe – von räuberischen Meeresschnecken über surfende Insekten bis hin zu Schleim produzierenden Mikroben. Sie alle gehören zum Neuston – so wird die Gesamtheit aller Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen genannt, die in der dünnen Schicht direkt unter der Wasseroberfläche lebt.  

Bisher hat sich die Forschung nur sporadisch mit dieser geheimnisvollen Welt beschäftigt. Doch seitdem Klimawandel und Meeres­erwärmung in aller Munde sind, rückt auch das Neuston in den Fokus. Immerhin bedeckt dieses diverse Ökosystem gut zwei Drittel der Erdoberfläche und ist ein wichtiger Teil der Nahrungsnetze. Ebenso fungiert die oberste Meeresschicht als eine Art Schnittstelle zwischen Korallenriff und Tiefsee. Manche Neustontiere finden nämlich erst ausgewachsen den Weg nach oben, während andere dort nur ihre Kindheit verbringen und danach abtauchen. Hinzu kommt der Schleim der Mikroben, der einen Großteil der obersten Meeresschicht überzieht und dabei eine entscheidende Rolle beim Austausch zwischen Atmosphäre und Meer spielt. 

Was an der Oberfläche der Ozeane passiert, so weiß man heute, hat globale Bedeutung. Umso bedrohlicher ist es, dass Klimawandel und Umweltzerstörung das Leben und die Prozesse dort oben massiv stören könnten. Dabei haben es die Neustontiere ohnehin schon schwer in ihrer extremen Umgebung, in der sie Wind, Wellengang und eine unerbittliche Sonne mit ihren schädlichen UV-Strahlen sowie starke Temperatur- und Salzgehaltschwankungen aushalten müssen. Wer hier überlebt, ist gut gerüstet, auch wenn dies den fragilen Geschöpfen mit ihren weichen Körpern kaum anzusehen ist. 

Eine große Gruppe von Neustontieren bildet die Palette der Blautöne bis hin zum satten Violett ab. Die blaue Körperfarbe ist eine Überlebenstaktik: Wie sonst sollten sie sich in der blauen Einöde des offenen Ozeans tarnen, wo Angriffe aus der Luft und dem Meer drohen? Die Tiere machen sich als sogenannte Blaue Flotte unsichtbar, indem sie optisch mit ihrer Umgebung verschmelzen. 
Niemand verkörpert diese Strategie eindrucksvoller als Glaucus atlanticus, der Blaue Seedrache. Glaucus ist eine Meeresschnecke, die neustonische Nesseltiere frisst und sich deren Nesselkapseln einverleibt, um sie zur eigenen Verteidigung einzusetzen. Wehrlos ist das zierliche Tier also nicht, aber doch eine leichte Beute, wenn es auf dem Meer treibt und mit dem Bauch nach oben gen Himmel blickt. Diese Seite aber trägt ein Muster aus blauen Streifen, sodass Vögel Glaucus kaum ausmachen können. Die Unterseite wiederum ist fahlbleich, damit sich die Silhouette des Tiers nicht vom hellen Himmel abhebt, wenn Prädatoren im Wasser nach oben spähen. 

Für Glaucus atlanticus ist es dabei nicht einfach, oben zu bleiben. Die Meeresschnecke muss Luft schlucken und auf die Oberflächenspannung des Wassers vertrauen, um nicht in die Tiefe zu trudeln. Andere Neustonarten suchen anderweitig Halt: Die Entenmuschel Dosima heftet sich in ihrer Jugend an Treibgut an, die seltene Seeanemone Actinecta hängt kopfüber an ihrer schwimmenden Fußscheibe, und die Veilchenschnecke Janthina produziert einen raffinierten Schleim, den sie mit Luftblasen aufschäumt und zum Floß aushärten lässt. Ähnlich funk­tioniert der flache Quallenkörper von Velella, der ein Floß mit transparentem Dreieckssegel bildet und sich vom Wind treiben lässt. 

Allerdings führt diese Fähigkeit  manchmal in die Sackgasse. Eine steife Brise kann Tausende der Tiere zusammenbringen und sie im schlimmsten Fall an Land tragen. Gefährlich ist das glibberige Strandgut für uns Menschen nicht, anders als die ebenfalls oft in Massen angespülten Portugiesischen Galeeren und ähnliche Staatsquallen, die eigentlich weder Quallen noch einzelne Tiere sind. Hier schließen sich Kolonien von Polypen zusammen, die sich unterschiedlich entwickeln, um verschiedene Funktionen zu erfüllen. Es gibt Organe für die Fortpflanzung und die Verdauung, aber auch eine Gasblase, die an der Meeresoberfläche treibt. Wer eine solche erblickt, sollte also gewarnt sein. Unter Wasser befinden sich dann vermutlich mit hochgiftigen Nesseln bestückte Tentakel. 

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mare No. 161

mare No. 161Dezember 2023 / Januar 2024

Von Susanne Wedlich

Susanne Wedlich, Jahrgang 1971, studierte Biologin und freie Wissenschaftsjournalistin in München, war überrascht, wie wenig die Neustontiere erforscht sind. Erst nach und nach setze sich in der Forschergemeinde die Erkenntnis durch, so Wedlich, dass die oberste Meeresschicht ein besonders schützenswertes Ökosystem ist.

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Vita Susanne Wedlich, Jahrgang 1971, studierte Biologin und freie Wissenschaftsjournalistin in München, war überrascht, wie wenig die Neustontiere erforscht sind. Erst nach und nach setze sich in der Forschergemeinde die Erkenntnis durch, so Wedlich, dass die oberste Meeresschicht ein besonders schützenswertes Ökosystem ist.
Person Von Susanne Wedlich
Vita Susanne Wedlich, Jahrgang 1971, studierte Biologin und freie Wissenschaftsjournalistin in München, war überrascht, wie wenig die Neustontiere erforscht sind. Erst nach und nach setze sich in der Forschergemeinde die Erkenntnis durch, so Wedlich, dass die oberste Meeresschicht ein besonders schützenswertes Ökosystem ist.
Person Von Susanne Wedlich