„Für uns ist jeder Sturm ein Segen“

Deutschlands ungewöhnlichster Schiffsausstatter: Günter Tiessen. Geschäftsadresse: Kiel, Tiessen-Kai

René Kollo kaufte für seine Yacht den gesamten Champagner auf, ein chinesischer Frachter orderte 10000 Tischtennisbälle, ein Seglerpaar brauchte über Nacht Verlobungsringe und ein schwedischer Kapitän einen Hund für seine Kinder. Der fand sich im Tierheim und fuhr rechtzeitig vor Weihnachten auf einem Frachter gen Norden. Alles nur eine Frage des Service. Der ist die große Kunst eines kleinen Betriebes am Nord-Ostsee-Kanal in Kiel-Holtenau.

Eigentlich müßte es nach Speck und Kernseife riechen und eine Türglocke bimmeln. Wie im Kaufmannsladen aus dem Bilderbuch sieht es hinter der malerischen Backsteinfassade von „Hermann Tiessen – Schiffsausrüstungen“ aus: Schäkel und Emaillebecher sind im Fenster aufgereiht, über der Theke hängen Klobürsten, Pinsel und Pudelmützen. In den Fächern der blankpolierten Regale lagern Fertigsuppen neben Sardinenbüchsen. Großpackungen, versteht sich. Denn wer sich in dem museumswürdigen Geschäft eindeckt, hat entweder einen langen Segeltörn vor sich oder eine hungrige Besatzung an Bord.

Der Chef sitzt wie seit über 50 Jahren in Schlips und weißem Hemd am Schreibtisch, kaut Lakritzbrezeln und rechnet Kopf. Auf der Proviantbestellung der „MS Småland“ steht „1 Karton Putenbrustfilets – unpaniert, 5 kg Mortadella, 20 ltr. Eiscreme, 10 000 St. Teebeutel“. Günter Tiessen kennt die Preise auswendig und benutzt den Taschenrechner nur für Devisenkurse. In Schönschrift schreibt er die Rechnungen an Reedereien und Kapitäne. Auch die Inventur wird – Computer hin oder her – penibel von Hand gemacht.

Das Telefon klingelt. „Gott zum Gruße!“, läßt es Günter Tiessen in den Hörer schallen. Mit dem Kapitän am anderen Ende ist er wie mit fast allen per du. Viel Herz, verschmitzter Humor und ein Schlag altmodisches Preußentum zeichnen den weißhaarigen Herrn mit den wachen Augen aus, der mit 78 Jahren noch immer sieben Tage in der Woche mit Hingabe den Familienbetrieb führt und erst abends um acht nach Hause fährt.

Dann schließt der Laden – der älteste seiner Art in Deutschland – für die Laufkundschaft, die im Sommer vor allem aus Hobbyseglern besteht. Zwei Mitarbeiter halten die ganze Nacht Wache und wickeln das eigentliche Geschäft ab: die Bestellungen der Küstenmotorschiffe, die durch den Kanal fahren und während der kurzen Liegezeit an der Holtenauer Schleuse mit Proviant beliefert werden. Das kann um Mitternacht oder auch um 4 Uhr morgens sein.

Hinter der putzigen Tante-Emma-Kulisse am Tiessen-Kai 9 (die Stadt Kiel benannte dem Geschäft zu Ehren den Holtenau-Kai um) versteckt sich auf 1500 Quadratmetern und zwei Etagen ein verwinkeltes, weitläufiges Lager mit 25 000 Artikeln, das es mit jedem Kaufhaus und manchem Butterschiff aufnehmen kann. „Pütt un Pann un Mausefallen“, umreißt Günter Tiessen den Inhalt der Regale.

Außer Eisenwaren, Lotsenleitern, Schiffsglocken und Tauwerk beherbergen sie auch Holzpantinen, Tee-Eier, Senfautomaten, Blechschaufeln für Kohleöfen („Die finden Sie in ganz Kiel nicht!“), Eishammer („wenn das Deck zufriert“), Nudelhölzer („20 Jahre hat keiner danach gefragt, und dann gleich vier im letzten Jahr!“), 125 Sorten Glühbirnen („auch für japanische Fassungen“) und Flaggen für fast jedes Land der Welt („sogar für die Schweiz“). Besonders stolz ist Tiessen auf die Gewindeeisen: „Die haben selbst die Hamburger Schiffsausrüster nicht auf Lager.“ Denn alle Konkurrenten in ganz Europa (bis auf einen anderen Kieler Betrieb) haben nur wochentags und tagsüber geöffnet und müssen nicht für Notfälle ausgerüstet sein. 100 Kilo Schnellbinderzement brachte er daher letztens zum Hamburger Hafen: Ein lecker Frachter drohte dort übers Wochenende zu sinken.

In den Kühlräumen liegen Schweinehälften und frisches Gemüse, die Kartoffeln kommen direkt vom Bauern. Donnerstags gibt’s Bücklinge und Makrelen, die ein Tiessen-Angestellter selber räuchert. Noch bestimmt nicht das Werbefernsehen das Warenangebot. „Aber die Leute fragen immer öfter nach einem bestimmten Milchreis oder irgendwas Neuem“, wundert sich Wachleiter Jürgen Martin, der dann schnell zum Supermarkt fährt.

Das Herzstück der Firma versteckt sich hinter Eisengittern. „Hier beginnt die freie Welt“, scherzt Günter Tiessen und zeigt auf zollfreie Ware im Wert von vielen hunderttausend Mark. Tabak und Spirituosen zu Billigstpreisen: 3,20 Mark die Flasche Wodka, die Stange Tabak ab 7,50 Mark. Damit bezahlen die Kapitäne in ausländischen Häfen ihre Helfer und verdienen sich in der Heimat manche Mark dazu. Auch Fünfkilotüten Mehl und Tiefkühlfleisch aus dem Hamburger Freihafen wandern in Tiessens Zollager. Die Koteletts aus China oder Hähnchen aus Brasilien dürfen allerdings nur auf Schiffe, die danach mindestens 72 Stunden in internationalem Gewässer verbringen.

„Wir fahren hoch bis nach Schweden und runter bis Emden, um zu liefern“, erzählt der Inhaber, der das Geschäft 1966 von seinem Vater Hermann übernahm. Vorher studierte er Meteorologie und arbeitete auf einer Wetterwarte in Norwegen. „Aber mein Jugendtraum war immer der Laden“, sagt Günter Tiessen, und so wie er dabei strahlt und zufrieden auf seine Hundefutter-, Schrauben- und Blecheimer-Bestände schaut, glaubt man es ihm sofort. Mit zwei Bunkerbooten belieferte er die Schiffe lange Zeit zusätzlich mit Treibstoff. Tiessen schmunzelt: „Heute ist BP vom Kanal verschwunden, aber wir sind noch da!“

Bis vor zwei Jahren saß auch seine Frau Susanne täglich neben ihm und machte Abrechnungen. Aus gesundheitlichen Gründen bleibt sie jetzt zu Hause. „Ein herrliches Leben war das“, schwärmt Günter Tiessen und erzählt, wie sie gemeinsam in Winter 1956, als die Ostsee zufror, den Proviant für die festsitzende „Adalbert“ auf Schlitten übers Eis zogen, „das Trinkwasser in großen Milchkannen“. „Früher“ ist ein Wort, das man bei „Hermann Tiessen“ häufig hört, und immer klingt es wehmütig. Früher gab es weder Fax noch Handy, sondern die Bestellungen kamen über Kiel-Radio. Früher kam auch noch die Besatzung rein und kaufte Unterhosen und Socken. Als Onassis in der Kieler Werft bauen ließ, durfte Tiessen dem großen Tanker mit seinem kleinen Bunkerboot Wasser liefern. In den 50er und 60er Jahren lagen die Schiffe manchmal in Zehnerreihen am Kai, und die Angestellten turnten mit dem Brötchenkorb am Arm oder dem Kohlesack auf der Schulter von Schiff zu Schiff.


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mare No. 13

No. 13April / Mai 1999

Von Anke Richter und Axel Martens

Anke Richter, Jahrgang 1964, volontierte in einem Korrespondentenbüro in Los Angeles und arbeitet als freie Journalistin in Kiel. Derzeit ist sie Autorin der Frauenzeitschrift Allegra. Im VGS-Verlag, Köln, erschien soeben ihr Buch Aussteigen auf Zeit. Das Sabbatical-Handbuch.

Axel Martens, 1968 geboren, erhielt seine Fotografenausbildung am Berliner Lette-Verein. Er ist freier Fotograf in Hamburg und Mitglied der Agentur Focus. Beide veröffentlichen hier erstmals in mare

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Vita Anke Richter, Jahrgang 1964, volontierte in einem Korrespondentenbüro in Los Angeles und arbeitet als freie Journalistin in Kiel. Derzeit ist sie Autorin der Frauenzeitschrift Allegra. Im VGS-Verlag, Köln, erschien soeben ihr Buch Aussteigen auf Zeit. Das Sabbatical-Handbuch.

Axel Martens, 1968 geboren, erhielt seine Fotografenausbildung am Berliner Lette-Verein. Er ist freier Fotograf in Hamburg und Mitglied der Agentur Focus. Beide veröffentlichen hier erstmals in mare
Person Von Anke Richter und Axel Martens
Vita Anke Richter, Jahrgang 1964, volontierte in einem Korrespondentenbüro in Los Angeles und arbeitet als freie Journalistin in Kiel. Derzeit ist sie Autorin der Frauenzeitschrift Allegra. Im VGS-Verlag, Köln, erschien soeben ihr Buch Aussteigen auf Zeit. Das Sabbatical-Handbuch.

Axel Martens, 1968 geboren, erhielt seine Fotografenausbildung am Berliner Lette-Verein. Er ist freier Fotograf in Hamburg und Mitglied der Agentur Focus. Beide veröffentlichen hier erstmals in mare
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