Für immer Strandschaf

Auf North Ronaldsay in Schottland lebt eine einzigartige Schafart. Sie weidet am Strand und ernährt sich ausschließlich von Seetang. Gewöhnliches Gras würde sie nicht überleben

Ein Februarvormittag auf dem kleinen Eiland North Ronaldsay vor der schottischen Küste. Der Wind fegt über die flache, baumlose Insel, bringt Hagel, Regen, dann wieder Sonnenschein. Auf den Steinklippen an der Wasserkante drängt sich eine Herde kleinwüchsiger Schafe mit dichtem, zottigem Fell in allen Farben: Weiß, Braun, Grau, Schwarz. Was tun sie dort? Sie warten – auf die Ebbe. Geduldig folgen sie in den kommenden Stunden dem zurückweichenden Wasser. Denn es legt ihre wichtigste Nahrungsquelle frei: Seetang. „Je frischer und zarter die Pflanzen, desto besser“, sagt der Mitbesitzer der Herde, der 71-jährige Billy Muir. „Und je weiter draußen, desto zarter.“ Klingt wie ein gefährliches Spiel mit den Elementen, doch die Schafe beherrschen es perfekt.

Es ist eine besondere Rasse, die nur hier, auf der nördlichsten der Orkneyinseln, haust – urwüchsig und trotz ihrer kleinen Statur äußerst widerstandsfähig. Sie kam wohl bereits vor mehr als 5000 Jahren mit den ersten Siedlern auf das nur knapp sieben Quadratkilometer kleine Eiland – und hat auch nur hier überlebt. In anderen Teilen Europas wurde sie schon vor Jahrhunderten durch Zuchtschafe verdrängt, die mehr Fleisch und Wolle auf den Rippen haben.
Auf North Ronaldsay wurden sie vor etwa 190 Jahren praktisch vor die Tür gesetzt. Weil die Farmer auf der Insel die knappen Weiden für Rinder und ertragreichere Schafe nutzen wollten, bauten sie rund um das Eiland den sheep dyke – eine Trockensteinmauer, die den ungeliebten Tieren nur noch den steinigen Strand und die Klippen als Lebensraum ließ. Schon vorher an salzige Kost gewöhnt, ernährten sich die Schafe fortan fast ausschließlich von Seetang. „Das Seegras hält alles an Nährstoffen für sie bereit, was sie brauchen“, erklärt Billy Muir. „Vor allem viele Mineralstoffe. Am liebsten fressen die Schafe dulse, eine Art Lappentang. Der schmeckt schön süß.“

Und natürlich salzig, durch das Meerwasser. Doch gegenüber dem hohen Salzgehalt ihrer Nahrung haben die Tiere eine erstaunliche Toleranz entwickelt. So sehr haben sich die Schafe an ihre Algenkost gewöhnt, dass sie gewöhnliches Weidegras nur noch in geringem Maß vertragen. Würden sie zu einer Grasdiät zurückkehren, gingen sie nach kurzer Zeit an einer Kupfervergiftung ein. Der Grund: Die Inhaltsstoffe der Algen verhindern, dass die Schafe über ihren Darm das in ihrer Nahrung enthaltene Kupfer aufnehmen. Würden die Algen nach der langen Gewöhnung plötzlich durch Gras ersetzt, würde diese Barriere wegfallen und die Schafe durch die ungewohnte Kupfermenge in ihrer Nahrung eingehen. Ihren Rhythmus aus Fressen, Schlafen und Wiederkäuen haben die Schafe vollkommen den Gezeiten angepasst. Bei Ebbe wandern sie über den felsigen Meeresgrund, teilweise Hunderte Meter hinaus, und weiden den Seetang ab – auch bei Nacht. Bei Flut gehen sie zurück auf die Klippen und an die steinigen Strände.

„Die Tiere haben ein feines Gespür für die Gezeiten“, sagt Billy Muir. „Sie setzen sich oft schon eine Stunde vor dem Gezeitenwechsel in Bewegung.“

Die heftigen Stürme, die im Winter vor North Ronaldsay toben, stellen keine Gefahr für die Herde dar – im Gegenteil: „Die Brandung spült im Winter besonders viel Seetang an. Das ist die Zeit des Jahres, in der unsere Schafe fett werden.“ Nur selten kommt es vor, dass einzelne Tiere den Wellen zum Opfer fallen. „Manchmal weiden die Tiere weiter draußen auf einem erhöhten Felsen, und die Flut schneidet ihnen den Rückweg ab“, erzählt Muir. Ertrinken müssen sie deshalb noch lange nicht: „Ich habe schon oft gesehen, dass Schafe zurückschwimmen. 200, 300 Meter schaffen sie gut, wenn ihr Fell nicht zu schwer ist.“

Zum Schlafen und Wiederkäuen gibt es an einer Stelle noch ein Fleckchen Rasen, auf dem sie sich im Windschatten der Steinmauer niederlassen können und auch ihre Lämmer zur Welt bringen.

Wurden die wenig ertragreichen Schafe früher nur nebenher genutzt, sind sie mittlerweile zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor für die seit Jahren schrumpfende Inselgemeinschaft geworden. Sie locken Touristen an, ihre dichte, flauschige Wolle wird seit einigen Jahren in einer kleinen Wollmühle weiterverarbeitet, und das Fleisch der erwachsenen Tiere hat das Interesse der Gourmetköche auf dem Festland geweckt. „Das Fleisch ist dunkler und fester als das von Hausschafen. Es schmeckt ein wenig nach Wildente“, meint Muir, der Mitglied bei Slow Food ist. „Es ist nicht jedermanns Sache, aber ich finde es köstlich.“


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mare No. 139

mare No. 139April / Mai 2020

Von Olaf Tarmas

Olaf Tarmas, Jahrgang 1968, lebt in Hamburg und schreibt als freier Journalist über Menschen, Mahlzeiten und Tiere, die ihm auf Reisen begegnen, unter anderem für Publikationen wie Geo, Frankfurter Allgemeine Zeitung und Lufthansa-Magazin. Gern ist er dort unterwegs, wo es stürmt – die Orkneyinseln nördlich von Schottland kamen ihm da gerade recht.

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Vita Olaf Tarmas, Jahrgang 1968, lebt in Hamburg und schreibt als freier Journalist über Menschen, Mahlzeiten und Tiere, die ihm auf Reisen begegnen, unter anderem für Publikationen wie Geo, Frankfurter Allgemeine Zeitung und Lufthansa-Magazin. Gern ist er dort unterwegs, wo es stürmt – die Orkneyinseln nördlich von Schottland kamen ihm da gerade recht.
Person Von Olaf Tarmas
Vita Olaf Tarmas, Jahrgang 1968, lebt in Hamburg und schreibt als freier Journalist über Menschen, Mahlzeiten und Tiere, die ihm auf Reisen begegnen, unter anderem für Publikationen wie Geo, Frankfurter Allgemeine Zeitung und Lufthansa-Magazin. Gern ist er dort unterwegs, wo es stürmt – die Orkneyinseln nördlich von Schottland kamen ihm da gerade recht.
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