Für eine Million Schilling

Zehntausende Somalis fliehen vor Armut und Gewalt über den Golf von Aden aus der Heimat. Ihr Schicksal offenbart das ethische Dilemma unserer Zivilisation

Anarchie

In Somalia gehört der Tod zum Leben. Überall gehört der Tod zum Leben, aber in Somalia ist das Leben permanent im Bann des Todes. Nichts von dem, was die Zivilisation errungen hat, hat in diesem Land Bestand. Es heißt, Somalia sei einer der brutalsten Plätze auf der Welt. Es gebe keine handlungsfähige Regierung, keine Polizei, keine Armee; kein Schulwesen, keine Verwaltung, keine Justiz. Das berichten Vertreter von Hilfsorganisationen und jene paar wagemutigen Reporter, die in den vergangenen Jahren am Horn von Afrika waren und ihre Recherche überlebt haben. Mogadischu, die Hauptstadt, so sagen die einen, sei die Hölle, Mogadischu, so sagen die anderen, eine Geisterstadt: kein Stromnetz, kein Abwassersystem, keine Müllabfuhr, kein Trinkwasser, keine medizinische Versorgung. Eine Stadt der Sandsäcke, Straßenbarrieren, Checkpoints. Ein einziges Sperrgebiet. Der „Newsweek“-Autor Scott Johnson vermerkt 2008: „Mogadischu sieht aus wie Bagdad in seinen dunkleren Tagen.“

In den Straßen finden Schlachten statt, die Straßen sind vermint. Banden marodieren, manchmal sind die Banditen barfuß, manchmal sind es Kinder, Zehnjährige, die Granaten werfen. Auf Plätzen explodieren ferngesteuerte Bomben, die Zahl der Selbstmordattentate steigt. Am Straßenrand: rostige Autowracks, metertiefe Krater, Panzerschrott. Passanten gibt es kaum. Mogadischus Bürgermeister geht in die Außenbezirke seiner Stadt nur in Begleitung hochbewaffneter Soldaten. Überall wird geplündert, erpresst, überfallen. Mitarbeiter internationaler Hilfsorganisationen werden entführt oder sofort ermordet, 20 von ihnen allein im letzten Jahr. Vertreter der Welthungerhilfe verlassen das Land, Botschaften schließen, konsularischer Schutz ist nicht mehr möglich. Nicht einmal Vertreter der Vereinten Nationen wissen, wo im Land es sicher ist; ihren Offiziellen ist es verboten, die Nacht in Mogadischu zu verbringen. Jeden Monat verschwindet die Hälfte der staatlichen Steuereinnahmen, spurlos. Regierungstruppen rauben Zivilisten aus, um sich zu ernähren.

In Somalia sind alle tragischen Konflikte der Geschichte vereint: Hunger, Dürre, Krieg, Angst und Leid. Das Land erlebt eine innere und äußere Katastrophe – den Krieg der Natur gegen den Menschen und den Krieg des Menschen gegen sich selbst. Die Anarchie hat zu einer unfassbaren Verrohung der Gesellschaft geführt – oder: die Verrohung der Gesellschaft zu Anarchie, wenn man von Gesellschaft überhaupt sprechen kann. Wer heute in Somalia unter 20 ist, hat in seinem Leben einzig Gewalt als Lösung von Problemen erfahren. Der Zirkel aus Mord, Rache und Vergeltung ist geschlossen, und er dreht sich immer tiefer in den verdorrten Boden der Hölle.


Heimat

Der somalische Mensch hat kein Recht, Menschenrechte gelten nichts. Einst war das Land ein demokratisch regiertes, liberales Land mit stabiler Wirtschaft, das Rinder, Schafe, Bananen und Holzkohle exportierte. Somalias Geschichte der 1960er Jahre ist partiell sogar eine Erzählung über Freiheit: Im Juli 1960 erlangt das Kolonialgebiet Britisch-Somaliland die Unabhängigkeit von Großbritannien, wenig später das Kolonialgebiet Italienisch-Somaliland jene von Italien. Beide Länder vereinigen sich zur Republik Somalia. Einen Nationalfeiertag aber gibt es nicht, und von Nation kann man nicht sprechen. In Agonie liegt Somalia seit 1991, da versank es in einem Chaos, von dem es sich bis heute nicht erholt hat.

1969 putscht sich General Mohammed Siad Barre an die Macht und verbündet sich mit der Sowjetunion, deren Seeflotte den Hafen von Berbera nutzt. Barre wendet den „wissenschaftlichen Sozialismus“ auf Somalia an, er implementiert kurzum die praktische Philosophie von Marx und Engels in eine afrikanische Tribalgemeinschaft, die zu 99,8 Prozent aus sunnitischen Muslimen besteht. Ende der 1970er Jahre wechselt der überzeugte Sozialist die Seiten und lehnt sich an die USA an; Somalia wird da bereits von Guerillakämpfen und Separatistengewalt erschüttert. Im Januar 1991 werden Barre und seine Somalische Revolutionäre Sozialistische Partei von Rebellen gestürzt; von da an gibt es keine Zentralregierung mehr. Die Regionen kämpfen um Autonomie, statt Parteien regieren bewaffnete Verbände. Ein brutaler Bürgerkrieg beginnt. „Warlords“, mächtige, mit Privatarmeen ausgestattete Führer lokaler Clans, übernehmen das Regiment; die Clans heißen Hawiye, Darod, Dur und Isaaq. Clan-Vendettas werden zum Alltag. In Somalia gehört der Tod zum Leben. Und dann kommt übers trockene Land die vielleicht schlimmste Hungersnot, die die Welt je sah, 300 000 Menschen sterben in den Jahren 1991/92. Der UN-Sondergesandte bemerkte, die humanitäre Situation des Landes sei die „schlimmste auf dem ganzen Kontinent“. Jeder zweite Somalier gilt heute als hilfsbedürftig.


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mare No. 73

No. 73April / Mai 2009

Von Christian Schüle und Alixandra Fazzina

Christian Schüle, Jahrgang 1970, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaften studiert. Er lebt als Autor, Essayist und Reporter in Hamburg. Seine Texte wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Sein jüngstes Buch Türkeireise erschien 2006 im Malik-Verlag.

Die Fotografin Alixandra Fazzina, 1974 in London geboren, von der auch die Bildtexte stammen, begann ihre Karriere als Kriegsberichterstatterin in Bosnien. In den vergangenen acht Jahren arbeitete sie im Mittleren Osten und in Afrika; sie dokumentierte unter anderem den Friedenseinsatz britischer Truppen in Sierra Leone. Zurzeit lebt sie in Islamabad, Pakistan. Ihr Buch Eine Million Schilling – Flucht aus Somalia erscheint im kommenden Juni bei Trolley Books.

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Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaften studiert. Er lebt als Autor, Essayist und Reporter in Hamburg. Seine Texte wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Sein jüngstes Buch Türkeireise erschien 2006 im Malik-Verlag.

Die Fotografin Alixandra Fazzina, 1974 in London geboren, von der auch die Bildtexte stammen, begann ihre Karriere als Kriegsberichterstatterin in Bosnien. In den vergangenen acht Jahren arbeitete sie im Mittleren Osten und in Afrika; sie dokumentierte unter anderem den Friedenseinsatz britischer Truppen in Sierra Leone. Zurzeit lebt sie in Islamabad, Pakistan. Ihr Buch Eine Million Schilling – Flucht aus Somalia erscheint im kommenden Juni bei Trolley Books.
Person Von Christian Schüle und Alixandra Fazzina
Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaften studiert. Er lebt als Autor, Essayist und Reporter in Hamburg. Seine Texte wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Sein jüngstes Buch Türkeireise erschien 2006 im Malik-Verlag.

Die Fotografin Alixandra Fazzina, 1974 in London geboren, von der auch die Bildtexte stammen, begann ihre Karriere als Kriegsberichterstatterin in Bosnien. In den vergangenen acht Jahren arbeitete sie im Mittleren Osten und in Afrika; sie dokumentierte unter anderem den Friedenseinsatz britischer Truppen in Sierra Leone. Zurzeit lebt sie in Islamabad, Pakistan. Ihr Buch Eine Million Schilling – Flucht aus Somalia erscheint im kommenden Juni bei Trolley Books.
Person Von Christian Schüle und Alixandra Fazzina